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»Von Staatsknete unabhängig sein «

Was wollte die Jugendzentrumsbewegung? Ein Gespräch mit Wolfgang Seidel

  • Jonas Engelmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Wie war das Verhältnis der Jugendzentrumsbewegung zur Hausbesetzerbewegung? Gab es Überschneidungen?

Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den Hausbesetzern Anfang der 1970er und den Entwicklungen ab den 1980ern. Das Georg-Rauch-Haus in Berlin-Kreuzberg ist ja wegen des »Rauch-Haus-Songs« der Scherben populär geworden. Das ehemalige Schwesternheim des Bethanien-Krankenhauses wurde 1971 von Jugendlichen aus der Nachbarschaft, mehrheitlich Lehrlingen und jungen Arbeitern, besetzt. Kreuzberg war ein Stadtbezirk, in dem die Wohn- und Lebensverhältnisse trotz Wirtschaftswunder noch sehr bescheiden und beengt waren. Zu den Regeln des Rauch-Hauses gehörte es zu arbeiten bzw. für die noch schulpflichtigen Jugendlichen regelmäßig zur Schule zu gehen. Man wollte so weit wie möglich von Staatsknete unabhängig sein, um sich nicht angreifbar zu machen als Gruppe von Menschen, die es sich auf anderer Leute Steuergroschen bequem machen. Was die Arbeit betrifft, bemühte man sich, Jobs in großen Betrieben zu bekommen und dort auch innerhalb der gewerkschaftlichen Strukturen aktiv zu werden. Die Lieblingsthemen der Studentenbewegung - Vietnam, Nahost - spielten eine untergeordnete Rolle.

Wolfgang Seidel

In der Jugendzentrumsbewegung sei »die Fusion von Politik und Kultur« wieder aufgelebt, heißt es im Dokumentarfilm »Freie Räume«. An der Schnittstelle von Kultur und politischem Aktivismus wirkte auch die Band Ton Steine Scherben aus Westberlin. Sie wollte eigentlich so klingen wie die Rolling Stones, doch dann wurde sie zum Prototyp von Punk. Sie war linksradikal und vertrieb ihre Platten selbst, für deren Produktion sie ihr eigenes Independentlabel aus der Taufe gehoben hatte. Und sie spielte auch in besetzten Häusern und Jugendzentren.

Wolfgang Seidel war 1970 Gründungsmitglied von Ton Steine Scherben und Schlagzeuger auf der ersten Single »Macht kaputt was euch kaputt macht« und auf dem ersten Album »Warum geht es mir so dreckig«. In den 80ern wurde er Grafiker und machte fortan Improvisationsmusik, unter anderem mit Alfred Harth. 

Die Jugendzentren waren ja nicht per se linke Orte, sondern dienten zunächst einmal dem Verbringen von Freizeit. Sind die Jugendlichen vor allem durch die Kämpfe um diese Räume politisiert worden? Oder war linke Politik Teil der Jugendzentrumskultur?

Der Schwerpunkt der Jugendzentrumsbewegung waren die kleinen Industriestädte, z.B. im Stuttgarter Raum, also prosperierende Industrieregionen. Das ist typischer als das, was im eher subkulturell geprägten Westberlin passierte. Die Lebensumstände der Jugendlichen waren geprägt vom Widerspruch zwischen brummender Wirtschaft samt den Versprechungen der Konsumgesellschaft und den beengten Verhältnissen, in denen sie lebten. Beengt meint dabei nur zum Teil materiell, denn dazu kamen noch autoritäre Erziehung und repressive Moral - in den Familien, der Schule oder in der Lehrlingsausbildung. Kommerzielle Freizeitangebote gab es nur sehr beschränkt. Das musste man sich erst mal leisten können und dürfen. Denn für die Jüngeren galt, dass gesetzliche Regelungen wie Altersbeschränkungen rigide gehandhabt wurden. Die Freizeitangebote der Städte waren ebenfalls sehr begrenzt und gingen meist an den Bedürfnissen der Jugendlichen vorbei. Die Jugendzentren waren mal besetzt, mal wurden sie von den Städten zur Verfügung gestellt, als Maßnahme der Befriedung und manchmal wohl auch aus Einsicht, dass Orte einer selbstbestimmten Freizeit sinnvoll sind. Eng verzahnt damit war die Lehrlingsbewegung mit ihren Forderungen nach besserer Ausbildung, besserer Bezahlung etc. Die entstand relativ zeitgleich mit der Studentenbewegung und war von den Aktionsformen her auch von ihr beeinflusst, hatte aber eine eigene Agenda. Man verstand sie zwar auch als linke Politik - aber in einem wesentlich praktischeren Sinn.

Was hatten die Akteure für einen sozialen Background?

Zahlen habe ich keine. Aber in dem Film »Freie Räume« heißt es: Lehrlinge, junge Arbeiter, Schüler. Darunter viele Gymnasiasten. Man muss bedenken, dass mit Beginn der 1970er die Bildungsreformen griffen und das BAföG eingeführt wurde. Ein großer Teil, wahrscheinlich die Mehrheit der Gymnasiasten, die in den Jugendzentren aktiv wurden, gehörten in ihren Familien zur ersten Generation, die es zu höherer Schulbildung gebracht hatte. Deren Lebenshintergrund war immer noch kleinbürgerlich, von der Arbeiterklasse geprägt. Damit hatten sie allerdings mehr Gründe zu rebellieren als die Studenten mit bürgerlichem Background. Für die eher kleinbürgerliche Sozialstruktur der Jugendzentrumsbewegung in deren frühen Jahren spricht auch, dass sie vor allem in kleineren Industriestädten aktiv war.

Welche kulturelle Bedeutung hatten die Jugendzentren für Bands wie Ton Steine Scherben?

Kulturell hatten die Jugendzentren einigen Einfluss. Allerdings sind die zahlreichen Theater-, Film oder Fotogruppen, die sich dort gebildet hatten, heute vergessen. Ein bisschen mehr im Gedächtnis geblieben ist die Rolle, die die Zentren für die Musikszene hatten. Bands wie die Scherben oder Floh de Cologne, die in ihren Songs die Lebenssituation der Jugendlichen thematisiert haben, waren natürlich besonders gefragt. Aber auch fast jede Band, die heute unter Krautrock einsortiert wird, hatte dort ihr Publikum.

Wie war das Ende der Bewegung, was ist dabei weggebrochen?

Das lässt sich so nicht beantworten, da von einem Zeitraum von inzwischen 50 Jahren die Rede ist, in denen viele ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen und auch Brüche stattgefunden haben. Spätestens Mitte der 1970er war die Prosperitätsphase vorbei, die in Deutschland »Wirtschaftswunder« hieß - in England »Swinging Sixties«, in Frankreich »Trente Glorieuses«. Aus dem, was die Briten »aspiring working class« genannt haben, wurden die »chavs«. In Deutschland hat man Begriffe wie »bildungsferne Schicht« und »Unterschichtenfernsehen« (in dem die Oberschicht das Programm bestimmt) erfunden.

Schon die Hausbesetzerbewegung der 1980er, wie ich sie in Westberlin erlebt habe, unterschied sich erheblich von der der Jugendzentren der frühen 1970er. Das war viel subkultureller und dystopischer geprägt als die Bewegung zehn Jahre zuvor - was sich ja auch in der Musik gespiegelt hat. Ein Teil der Forderungen aus der Zeit um 1970 hatte sich auch erledigt - erfolgreich oder in Kompromissen, mit denen man sich arrangieren konnte. Die rigide Moral war auf dem Rückzug, autoritäre Strukturen waren aufgeweicht, es gab BAföG, das Berufsausbildungsgesetz etc. Allerdings nicht für alle gleichermaßen. Es hat eine Partikularisierung stattgefunden, weswegen man einen Begriff wie Jugendkultur nur noch im Plural verwenden kann. Das letzte Kapitel des Films »Freie Räume« kann einen traurig stimmen. Aus dem gemeinsamen Kampf eines großen Teils der Jugendlichen gegen ein autoritäres System ist ein Kampf der einen Jugendlichen gegen die anderen geworden.

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