Der Rahmenbauer

Roter Großverleger, antikolonialer Organisator: 1940 verschwand Willi Münzenberg

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 8 Min.

Am 21. Juni 1940 verschwand ein Mann, der von 1920 bis 1940 allgegenwärtig gewesen war. Zuletzt gesehen wurde er, als er mit drei weiteren Männern ein Internierungslager verließ. Erst im Oktober fand sich sein Leichnam, mit einem Strick um den Hals, in der Nähe des Dorfs Montagne im südöstlichen Frankreich. Wie Willi Münzenberg genau zu Tode kam, wird sich kaum je klären lassen. Fest steht freilich, dass sein Verschwinden nachhaltige Wirkung hatte: Der 1889 in Erfurt geborene Kommunist und Großverleger war lange Zeit auch im öffentlichen Bewusstsein vergessen - zumindest in den deutschen Staaten.

Auf der einen Seite konnte die bald stramm antikommunistische Erinnerungskultur im Westen keinen Grund haben, den wohl prominentesten, bestvernetzten und wirkmächtigsten Kommunisten der Weimarer Zeit zu exhumieren: Im Gegenteil war ein Mann noch im Nachhinein zu fürchten, der nicht nur für die KPD im Reichstag saß, sondern über die breit gefächerten Publikationen des um die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) gewachsenen »Münzenberg-Konzerns« viel dazu beigetragen hatte, dass die Partei in den 20er Jahren eine Massenbasis gewann. Nicht nur Kulturschaffende und Intellektuelle von John Heartfield über Heinrich Mann bis Albert Einstein konnte er einbinden, sondern auch die einfachen Leute ansprechen. Und womöglich wäre Münzenberg nach 1945 tatsächlich in den Westen gegangen. Vielleicht hätte er, der mit Massenblättern wie »Welt am Abend« und »Berlin am Morgen« als ein Erfinder des Boulevards in Deutschland gelten kann, dort Axel Springer Konkurrenz gemacht, die auch politisch spürbar geworden wäre.

Doppelt abwesend

Keineswegs sicher wäre Münzenberg im Osten gelandet - obwohl oder weil er Lenin aus Züricher Exilzeiten noch persönlich kannte. Denn in Ostdeutschland gaben nach 1945 diejenigen Teile der kommunistischen Bewegung den Ton an, an denen er sich immer wieder gerieben und mit denen er spätestens nach dem Hitler-Stalin-Pakt gebrochen hatte. Zwar war er lange den Direktiven des stalinisierten Staats- und Parteikommunismus gefolgt: bis hin zur »Sozialfaschismusthese«, obwohl die wohl schon dem Naturell des Dorfgastwirtssohnes mit adligem Großvater widersprach. Doch ob er bei aller Einsicht in eine gewisse Parteidisziplin vom einmal gefällten Urteil - »Der Verräter, Stalin, bist Du!« - wieder heruntergekommen wäre, ist genauso offen wie die Frage, wie ihn der Osten empfangen hätte. Schon weil er bei allem Kommunismus für die Tradition einer institutionell unabhängigen Presse stand.

So blieb »der Willi« in der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte ein bekannter Unbekannter. Im Westen, fasst der Münzenberg-Experte Uwe Sonnenberg von der Rosa-Luxemburg-Stiftung zusammen, kam es nach 1968 zu einigen Sichtungen des Phantoms namens Münzenberg, ohne dass man auch nur im Ansatz über die Ressourcen verfügte, diese Entdeckung zeitgemäß wirksam zu machen. In der DDR, sagt Sonnenberg, wurde derweil der geschichtspolitische Eiertanz aufgeführt, »Teile seines Erbes wie die Arbeiterfotografiebewegung hochzuhalten, möglichst ohne Münzenberg zu erwähnen«. Erst 1989, anlässlich seines 100. Geburtstags, gab es im »ND« zarte Ansätze einer Rehabilitierung - neun Jahre nach der Wiederrichtung des Berliner Reiterstandbilds Friedrichs II. Unter den Linden.

Auf der Weltbühne

Gegenwärtiger als im deutsch-deutschen Klein-Klein war Münzenberg zu Zeiten, die er hätte erleben können, etwa im Globalen Süden. Als Indonesiens Gründungspräsident Sukarno 1955 die asiatisch-afrikanische Antikolonialkonferenz von Bandung eröffnete, aus der die Bewegung der Blockfreien Staaten hervorging und die der Dekolonisierung noch einmal einen Schub verlieh, erinnerte er an eine seiner zahlreichen Initiativen - und auch Indiens Ministerpräsident Jawaharlal Nehru gedachte seiner ehrend.

Einige der Schon-Staatspolitiker und Noch-Freiheitskämpfer, die sich in Bandung trafen, hatten sich nämlich knapp 20 Jahre zuvor kennengelernt - in einem von Münzenberg geschaffenen Rahmen. Ab 1925 hatte er in der von ihm auf Lenins Bitten aufgebauten IAH den antikolonialen Kampf zu einer Priorität erhoben. 1926 initiierte er die Liga gegen Kolonialgräuel und Unterdrückung, die in Deutschland bis zu 5000 Mitglieder fand - und den Vorlauf zu einer Konferenz im Februar 1927 in Brüssel bildete, auf die Sukarno und Nehru in Bandung anspielten.

In der belgischen Hauptstadt versammelten sich dabei 174 Personen aus 34 Ländern. Aus dem Süden kamen neben Nehru der spätere Sukarno- Vize Mohammad Hatta und etwa Josiah Tshangana Gumede, der zeitweise Südafrikas ANC vorsaß. Aus Frankreich war unter anderem der antikoloniale Aktivist Lamine Senghor anwesend, der das »Comité de Défense de la Race Nègre« mitinitiiert hatte und der KP angehörte. Aus den USA reiste Roger Baldwin an, ein Gründer der bis heute wichtigen American Civil Liberties Union (ACLU). Persönlichkeiten wie Einstein, Gandhi, Zetkin, die indische Autorin Sarojini Naidu oder Song Qingling, die später in China zur politischen Spitze zählte, schickten Grüße.

Das war, schreiben jüngst Urs Lindner und Laura Zahn, »das erste Mal, dass progressive Kräfte aus Europa und den USA (Sozialist*innen, Kommunist*innen, Pazifist*innen und Bürgerrechtler*innen) mit antikolonialen Aktivist*innen aus Lateinamerika, Afrika und Asien zusammentrafen, um die weltweiten antiimperialen Kämpfe zu koordinieren«. Der Austausch mit einflussreichen europäischen Linken - etwa dem Labour-Vize George Lansbury oder Edo Fimmen, dem Chef der Internationalen Transportarbeiterföderation - verlief offenbar enthusiastisch. Im Ergebnis wurde die Liga gegen Imperialismus, koloniale Unterdrückung und nationale Befreiung (LAI) gegründet, zu deren Exekutivkomitee neben Nehru, Hatta und Senghor auch Münzenberg gehörte.

Doch konnte, so Lindner und Zahn, die LAI »ihr politisches Potenzial nie wirklich entfalten«. Ein Grund dafür war die Stalinisierung der Komintern, die 1928 einen Abschluss fand. Die dabei rücksichtslos durchgesetzte Generallinie gegen den »Sozialfaschismus« schwächte nicht nur den antifaschistischen Widerstand in Europa, sondern auch den weltpolitischen Impetus jener Brüsseler Konferenz. Nicht-Parteikommunisten wie Lansbury oder Baldwin wurden aus der LAI gedrängt. Es obsiegte ein gewissermaßen instrumenteller Antiimperialismus - ein Angriff auf ihre Kolonien schwäche die kapitalistischen Hauptmächte - über einen auch humanistisch gedachten antirassistischen Antikolonialismus.

Zu Münzenbergs Widersprüchen zählt, dass er diese Verengung nicht offen bekämpfte. Auch dann nicht, als 1929 auf dem zweiten LAI-Kongress Shiv Prasad Gupta als Vertreter von Nehrus Indischem Nationalkongress des Klassenverrats bezichtigt wurde. Dass sich Nehru trotzdem noch 1955 auf den Verschollenen bezog, zeigt, wie genau man im Süden zwischen der LAI von 1927 und 1929 zu unterscheiden wusste.

Münzenberg selbst aber förderte weiterhin eine Praxis auch jenseits dieses instrumentellen Antiimperialismus. So half er 1929 als Pendant zu Senghors französischer Organisation der »Liga zur Verteidigung der Negerrasse« ins Leben. In Münzenbergs Berliner Verlagshaus ansässig, war die Gruppe um den in Kamerun geborenen Joseph Ekwe Bilé mehr als eine KP-Vorfeldorganisation für Schwarze. Sie hatte eine sehr eigenständige Agenda, die bis heute zeitgemäß wirkt: So führte man 1930 in »Kliems Festsälen« an der Hasenheide das Stück »Sonnenaufgang im Morgenland« auf, in dem es um Kolonisierung und Alltagsrassismus ging. Schon auf der Konferenz von 1927 sagte der Philosoph Theodor Lessing, der öfter in Münzenbergs Umkreis auftrat, einen Satz, der - bis auf die Wortwahl - aus einem Kurs in Postcolonial Studies oder Critical Whiteness stammen könnte: »Inder, Perser, Chinesen, Negervölker sollen als Lehrer kommen und den ganzen abscheulichen Hochmut des weißen Kulturkreises brechen.«

Wer sich in der jüngst neu auflebenden Kolonialismuskritik hierzulande nicht nur für Täter, sondern auch für die Geschichte schwarzer Selbstorganisierung interessiert, stößt fast unweigerlich auf Münzenbergs Netzwerke. Das zeigt: Historisch konnten eine humanistische Kolonialismus- und eine politökonomische Imperialismuskritik durchaus auf Augenhöhe zusammenspielen. Und jene Konferenz von Bandung im Jahr 1955, auf der man sich so prominent an Münzenberg erinnerte, zählt zu einem vielschichtigen und konfliktreichen Prozess, in dem Länder des Südens bis in die 1980er Jahre auf verschiedenen institutionellen Ebenen mehr oder minder fundamentale Weltwirtschaftsreformen forderten. Auch dies ist ein politischer Zyklus, den sich neu anzueignen lohnt, wenn eine postkoloniale Gegenwart zu begreifen ist.

Entgegen steht solchen Entdeckungen unter anderem vielleicht der Umstand, dass jene jüngere, oft kulturwissenschaftlich begründete Kolonialismuskritik ganz wesentlich auf linksliberale Diskurse in den USA zurückgeht, die von der dortigen Sklaverei ausgehen und dennoch von politischer Ökonomie nicht viel wissen - geschweige denn von der Komintern.

Vielerlei Ausgrabungen

Fraglos waren für Willi Münzenberg Imperialismus und Kolonialismus sehr wichtig. Doch hat die nach 1989 in Fahrt gekommene Forschung auch andere Grabungsstätten eröffnet. Sonnenberg spricht von einer transnationalen Perspektive auf »untergegangene Lebenswelten globaler Solidarität«, die sich beim Studium der um ihn gruppierten Netzwerke auftun. Es lasse sich auch die Frage nach einem »linken Antitotalitarismus« anhand von Münzenbergs Biografie stellen. Und das Willi-Münzenberg-Forum, das seit einer ersten internationalen Konferenz 2015 die Forschung fördern und bündeln will, hat für seine nächste Konferenz ein weiteres Großthema im Blick, das ihn zuletzt umtrieb: eine Art europäische Einigung von unten.

Auch hierzu schrieb Münzenberg selbst keine Bücher. Aber er versuchte noch als Politemigrant in Frankreich, für einen solchen Austausch einen Rahmen zu organisieren. Aufbauend auch auf seinem - von Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck in Moskau sabotierten - Versuch von 1936, im »Lutetia-Kreis« quasi nachholend eine Anti-Hitler-Volksfront zu zimmern, gründete er zu diesem Zweck 1938 die Zeitschrift »Die Zukunft« und noch im Jahr 1939 eine Deutsch-Französische Union.

Was daraus hätte entstehen können, ist freilich noch offener als im Fall der Liga gegen Imperialismus, die immerhin reale Wirkung hatte - und fast so offen wie die historische Frage, ob ihn nun stalinistische oder Agenten Hitlers getötet haben, der ihn in Abwesenheit hatte zum Tode verurteilen lassen. Oder die hypothetische, ob ein überlebender Willi Münzenberg eher in der DDR oder BRD aufgetaucht wäre - und was er hüben oder drüben vielleicht bewegt hätte.

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