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Edinburgh gegen London

Schottland kritisiert den Brexit- und Coronakurs der Regierung von Boris Johnson

  • Dieter Reinisch
  • Lesedauer: 3 Min.

Die 2400 Todesfälle durch das Coronavirus tragen zwar nur einen kleinen Teil zu den über 42 500 Toten in Großbritannien bei. Doch in Schottland regt sich schon lange Unmut über den Corona-Kurs Londons. Denn auch wenn internationale Vergleiche derzeit wenig Aussagekraft besitzen, Studien weißen daraufhin, dass die Todesrate dort je eine Million Einwohner die weltweit dritthöchste ist - nach Belgien und England. Seit der Coronakrise ist die Debatte um die Unabhängigkeit Schottlands und einem Austritt aus dem Vereinigten Königreich zwar verstummt. Erst am 29. Januar 2020 hatte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon angekündigt, einen neuen Anlauf für ein Unabhängigkeitsreferendum zu unternehmen. Die aktuellen Todeszahlen sind nun aber Wasser auf die Mühlen der schottischen Nationalisten.

Grund dafür dürften das schlechte Gesundheitswesen und die Situation in den Alten- und Pflegeheimen sein. Fast die Hälfte aller Todesopfer finden sich in Heimen. Die soziale Ungleichheit spielt eine weitere Rolle. Im vormals industrialisierten Westen um die Stadt Glasgow ist die Todesrate besonders hoch. Mit dem Niedergang der Werften entstanden hier und in den ehemaligen Bergbauregionen seit der neoliberalen Politik unter Margaret Thatcher ausgedehnte Elendsviertel. Nur wenige Minuten vom Stadtzentrum entfernt werden in Ost-Glasgow gebrauchte Haushaltsgeräte und ausgetretene Schuhe auf offener Straße angeboten. Die Arbeitslosigkeit gehört hier zu der höchsten in Großbritannien, zugleich ist das Durchschnittseinkommen gering - die Schattenwirtschaft floriert. Laut einer Reportage der BBC liegt die Lebenserwartung in Teilen Glasgows bei nur 54 Jahren.

Zu Beginn der Coronakrise folgte die schottische Regierung den Vorgaben aus London und setzte Maßnahmen nur zögerlich. Dennoch wurde die Wirtschaft hart getroffen. Laut der Schottischen Nationalpartei (SNP) mussten 19 Prozent der Geschäfte seit dem Ausbruch der Pandemie schließen. Die Regierung beschloss ein Hilfspaket von über zwei Milliarden Pfund.

Zu der Pandemie belasten die Brexit-Verhandlungen das Verhältnis zwischen London und Edinburgh. Die SNP erklärte, »das Coronavirus wird zusammen mit einem harten Brexit unaufhaltsam zu einem wirtschaftlichen Desaster führen«. Aus Kreisen des Verhandlungsteams in London ist zu hören, dass Johnson gar kein Abkommen mit der EU erreichen will. Die negativen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen will er mit einer einfachen Polemik abfedern: Schuld wäre die Pandemie, nicht der Brexit.

Schottland hatte, wie auch Nordirland, mehrheitlich gegen den Brexit gestimmt. Die SNP ist eine überzeugte EU-Befürworterin. Ihr Plan ist es, Schottland mit dem Versprechen der Rückkehr in die EU in die Unabhängigkeit zu führen.

In die Debatte um den Brexit bringt die SNP zunehmend die Pandemie ein. So betont die Partei, dass ohne EU-Förderungen die Entwicklung und der Ankauf eines Impfstoffes ab 2021 sich verteuern wird. Nicht Teil eines EU-weiten Gesundheitsplans zu sein, würde das britische Gesundheitswesen NHS weiter verschlechtern. Die schärferen Einreisebestimmungen würden Großbritannien außerdem vom Zustrom von nötigem Gesundheitspersonal abschneiden.

Besonders verärgert hat es Edinburgh aber, dass Schottland keinen Vertreter am Brexit-Verhandlungstisch hat und - so lässt es die SNP verlauten - die schottische Regierung über ihren Verlauf nicht informiert wird. Anfang Juni forderte sie Johnson auf, die Frist für ein Abkommen mit der EU über den 31. Dezember 2020 hinaus zu verlängern. Dessen Verhalten, eine von der EU angebotene Verlängerung abzulehnen, wurde in Edinburgh als »arrogant« bezeichnet. Ursprünglich hatte die SNP gar einen Stopp der Verhandlungen während der Corona-Pandemie gefordert. Laut Berechnung der Regierung in Edinburgh würde eine Fristverlängerung von zwei Jahren dem schottischen Haushalt drei Milliarden Pfund zusätzlicher Ausgaben ersparen.

Johnson hat bereits mehrfach eine weitere Verlängerung der Übergangsphase ausgeschlossen und liebäugelt mit einem harten Brexit. Dieser würde die Unabhängigkeitsforderungen weiter befeuern. Die langfristigen Nutznießerinnen eines harten Brexit wären dann nicht die Torys in London, sondern die SNP - mit unabsehbareren Folgen für die Zukunft des Vereinigten Königreich als die derzeitige Pandemie.

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