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Migrant*innen in Polens »Dschungel«

An der EU-Grenze verlor Darioush E. fast seinen Arm, die Bundespolizei stellt nach Zurückweisung eine Rechnung aus. Alltag europäischer Grenzpolitik

Darioush E. hat es nach Deutschland geschafft, aber seine Zukunft bleibt ungewiss.
Darioush E. hat es nach Deutschland geschafft, aber seine Zukunft bleibt ungewiss.

Bis 2021 führte der heute 20-jährige Darioush E.* ein für afghanische Verhältnisse recht privilegiertes Leben. Sein Vater war beim Militär, sein älterer Bruder arbeitete für das Präsidentenamt. Und auch Darioushs Schulbildung war überdurchschnittlich – seine Geschichte erzählt er in flüssigem Englisch.

Aber mit dem überstürzten Abzug der US-Truppen sei alles anders geworden. »Die Taliban haben versprochen, niemand werde bestraft werden. Aber das hat sich schnell als Lüge erwiesen.« Eines Nachts, berichtet der junge Mann ruhig, seien Taliban gekommen, um den Vater mitzunehmen. Die Unterstützung der Nachbarn habe eine Festnahme verhindert. Doch von diesem Tag an sei der Familie klar gewesen, dass man nicht in Kabul bleiben könne.

»Wir sind erst einmal in Afghanistan aufs Land. In eine Ortschaft, wo uns niemand kannte. Dann hat mein Vater Visa für den Iran besorgt. In dieser Zeit konnte man mit dem Auto einfach über die Grenze. Aber dort gab es keine Perspektive für uns. Deshalb haben wir uns sofort um eine Weiterreise bemüht.« Die einzige Möglichkeit, die sich ergab, waren Touristenvisa für Belarus.

Auf die Frage, ob man nicht sehr reich sein müsse, um in dieser Form zu fliehen, winkt der Migrant ab. Wer wirklich reich sei, könne in Afghanistan bleiben. »Gehen müssen diejenigen, die nicht reich sind. Wir haben einfach alles verkauft, um Flugtickets und Visa zu bekommen.«

Illegal in Belarus

In Belarus habe sich allerdings herausgestellt, dass die Aussichten kaum besser waren als im Iran. Die Familie musste erneut viel Geld ausgeben – diesmal für falsche Papiere, mit denen man zumindest bei einer Straßenkontrolle bestehen konnte. Weil es in Belarus kaum Jobs gab und die Familie ihre letzten Ersparnisse aufbrauchte, hätten sich Darioush E. und sein Bruder allein auf den Weg nach Westen gemacht.

Die Wälder im Grenzgebiet beschreibt der junge Afghane als »Dschungel«, und im Gespräch wird schnell deutlich, welch traumatische Erfahrungen er dort gesammelt hat. »Mein Bruder hat es gleich 2023 über die Zäune nach Deutschland geschafft. Aber mich hat die belarussische Polizei geschnappt, deshalb habe ich es später noch einmal versuchen müssen.«

Jugendmigrationsdienste

Der Kontakt zu Darioush E. entstand über die Jugendmigrationsdienste (JMD). Die Einrichtung dient bundesweit als erste Anlaufstelle für junge Migrant*innen und unterstützt junge Menschen im Alter von 12 bis 27 Jahren, die neu nach Deutschland kommen. Die JMDs beraten zur schulischen und beruflichen Orientierung und helfen bei Fragen zum Aufenthaltsrecht und zur Aufenthaltsperspektive.
Das wöchentlich in Neukölln stattfindende Sprachcafé bringt junge Neuzuwanderer in Kontakt mit Berliner*innen. Gemeinsam wird gelernt, gegrillt und die Stadt erkundet. Der JMD sucht immer Ehrenamtliche, die Lust haben, sich im Sprachcafé zu engagieren.
Darioush E. hat bisher keine geeignete Bleibe in Berlin gefunden. Er sucht gemeinsam mit seinem Bruder eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Falls Leser*innen Zimmer oder eine Wohnung zu vermieten haben, bitte Nachricht an:

jmd-tk@diakoniewerk-simeon.de

6000 Euro kostete der Grenzübertritt – den Betrag habe er immer noch nicht vollständig abbezahlt, berichtet der junge Afghane. »Sie bringen dich mit einem Auto in die Nähe der Grenze. Auf der belarussischen Seite gibt es zwar keine Mauer, aber eine Grenzanlage. Wenn du die berührst, kommt die belarussische Polizei und verprügelt dich. In Deutschland heißt es immer, Belarus würde die Migration unterstützen. Aber das ist nicht wahr. Wenn sie dich kriegen, schlagen sie dich krankenhausreif.«

Dank der Unterstützung der Schlepper habe seine Gruppe gewusst, wie sie die Kontrollanlagen umgehen konnte. Doch damit hätten die Probleme erst begonnen, so Darioush E. »Im Niemandsland gibt es kein Wasser und keine Lebensmittel.« Mit dem Handy zeigt der junge Afghane Aufnahmen, wie sich seine Gruppe erschöpft durch jenen Wald kämpft, der als einer der letzten Urwälder Europas gilt. Tagelang hätten sie nach einer Stelle gesucht, an der sie die Grenzanlage überqueren konnten. Die polnische Polizei sei noch gefürchteter gewesen als die belarussische. Einem Migranten, der ihm im Wald begegnete, sei von einem polnischen Polizisten mit einem Messer in den Nacken gestochen worden.

Darioush E. kostet es sichtlich Überwindung, von den Ereignissen zu erzählen: »Er war schwer verletzt, aber niemand konnte Hilfe holen. Am Ende ist er dort gestorben ... Es gibt so viele Menschen, die im Wald beerdigt sind. Und die Familien werden nie erfahren, wo sie liegen.«

Am Grenzzaun schwer verletzt

Nach einer Woche, in der die Migrant*innen Wasser aus Pfützen getrunken und kaum etwas gegessen hätten, habe seine Gruppe eine Stelle gefunden, an der man es nachts auf den fast sechs Meter hohen Grenzzaun schaffte. »Aber die polnische Polizei ist aufgetaucht und hat mich festgehalten. Ich hab mich aus meiner Jacke rausgewunden und bin gesprungen.« Dabei zog sich Darioush E. eine Muskelruptur zu, die fast zur Amputation seines Armes führte.

»Ich hatte fürchterliche Schmerzen«, erzählt er. »Aber ein anderer Migrant, den ich gar nicht kannte, hat mich auf den Rücken genommen und gesagt: ›Das ist die Chance deines Lebens.‹ Wir sind dann auf der polnischen Seite wieder in den Wald. Nachts folgen sie dir normalerweise nicht ins Gestrüpp, sondern versuchen dich in den anliegenden Ortschaften zu schnappen.«

48 Stunden seien sie durch den Urwald gelaufen, erst nach 24 Stunden hätten sie eine Wasserstelle gefunden. »Am ersten Tag darfst du dein Handy auch nicht verwenden, weil die Polizei dich sonst orten könnte.« Am ersten verabredeten Treffpunkt stand die Polizei, also mussten die Migranten weiterlaufen. »Mein Arm wurde ganz schwarz. Aber ich wusste auch, dass es mir noch schlechter gehen würde, wenn die polnische Polizei mich schnappt.«

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Schließlich seien sie an einem anderen Treffpunkt von einem Lieferwagen eingesammelt worden, der sie durch Polen nach Deutschland brachte. »Als wir dort ankamen, haben wir uns nicht mehr versteckt. Wir hatten keine Kraft mehr. Und ich dachte auch, dass uns die deutsche Polizei in ein Lager bringen würde.« Doch die Bundespolizei ignorierte das Asylbegehren.

Immerhin habe man ihn kurz zu einer Klinik gebracht, erzählt der Afghane. »Da haben sie allerdings nur festgestellt, dass mein Arm nicht gebrochen ist und mich zurück zur Polizei geschickt.« Nachts fuhr die Bundespolizei die Migrant*innen dann nach Polen. Offensichtlich sei den Beamten bewusst gewesen, dass ihr Verhalten nicht ganz rechtmäßig war, denn sie hätten – so Darioush E. – darauf geachtet, dass keine polnische Polizei auftaucht. »Sie haben uns dann einzeln auf der polnischen Seite ausgesetzt.«

Zweimal über die deutsche Grenze

Kurze Zeit später hätten polnische Polizisten ihn entdeckt und ihm Handschellen angelegt. »Mit meinem kaputten Arm hat das unglaublich wehgetan. Aber die polnischen Polizisten hassen einen, als hätte man ihren Vater umgebracht.« Deshalb habe er nach seiner Freilassung einige Tage später sofort ein zweites Mal versucht, nach Deutschland einzureisen.

Diesmal vermittelte das Schleppernetzwerk eine junge, sehr nervöse Frau, die ihn und einen zweiten Migranten im Auto nach Berlin gefahren habe. Dort habe er sich dann endlich als Geflüchteter melden können. »Den Arm konnte ich inzwischen fast gar nicht mehr bewegen«, erzählte Darioush E. »Nach einem Monat durfte ich endlich zu einem Arzt. Aber der hat wieder nur festgestellt, dass ich meine Hand ja noch bewegen kann.« Weil er anfangs keine Krankenversicherung hatte, sei er erst zwei Monate nach dem Unfall zu einem Facharzt gekommen, der ihm eröffnete, dass der Arm wahrscheinlich amputiert werden müsse.

»Die Muskeln ziehen sich zurück, wenn sie gerissen sind«, erzählt der junge Afghane und bewegt vorsichtig die betroffene Hand. »Ich wurde operiert, danach durfte ich ein halbes Jahr den Arm nicht bewegen. Jetzt geht es wieder ganz gut.«

Mittlerweile besitzt Darioush E. einen Auftenthaltsstatus nach Paragraf 25/3. Das heißt, er hat eine Bleibeperspektive und darf auch arbeiten. Doch die Angst begleitet ihn weiter. »Die Bundesregierung hat einen Deal mit den Taliban gemacht. Deutschland kann jetzt wieder nach Afghanistan abschieben. Dafür durften die Taliban zwei Diplomaten nach Berlin entsenden.« Zwar würden offiziell bisher nur Straftäter abgeschoben, doch Darioush E. ist sich nicht so sicher, ob er den Zusagen deutscher Behörden glauben kann. Immerhin hatte die Bundesregierung auch schon mal versprochen, alle Afghan*innen aufzunehmen, die vor dem Sieg der Taliban mit der Bundeswehr oder anderen deutschen Stellen kooperierten.

So verfolgt E. die Angst, am Ende doch abgeschoben zu werden. Seine Freundin, die er in Berlin kennengelernt hat, wurde erst vor wenigen Tagen deportiert. Dazu kommen seine Sorgen um die Eltern, die in Belarus zurückgeblieben sind. Und dann ist da auch die Wohnungsnot: »Ich habe bald meinen Deutschtest. Den brauche ich, um meinen Schulabschluss machen zu können. Aber wir wohnen zu fünft in zwei Zimmern. Wie soll ich mich da konzentrieren?« Der Vermieter, der eine Zweiraumwohnung an fünf Personen vermietet hat, kassiert illegalerweise mehr als 2000 Euro beim Jobcenter.

Doch Darioush E. hat keine Alternative. »Im Heim gibt es jeden Tag Streit, jeden Tag kommt die Polizei ... So viele dort haben psychische Probleme. Da wird man selbst verrückt.« Auch ihn selbst holt die Vergangenheit immer wieder ein. »Der Junge im Wald, dem die polnische Polizei in den Hals gestochen hat, war so alt wie ich. Ich habe ihn sterben sehen.« Der junge Afghane würde gern studieren, aber ob er den Kopf nach den traumatischen Erfahrungen der letzten Jahre freibekommt, weiß er nicht.

Zumal auch immer wieder neue Probleme auftauchen. Vor einiger Zeit hat die Bundespolizei ihm eine Rechnung für die Festnahme an der Grenze geschickt. In dem Schreiben, das dem »nd« vorliegt, heißt es, die Bundespolizei stelle für Dolmetscher- und Fahrdienste 260 Euro in Rechnung. Eine bemerkenswerte Forderung, denn die Zurückweisung einer Person, die in Deutschland Asyl beantragen möchte, stellt einen Pushback dar. Der jedoch ist nach internationalem Recht verboten. Das europäische Grenzregime selbst ist ein »Dschungel«.

* Wegen seines prekären Aufenthaltsstatus will der Porträtierte seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Der richtige Name von Darioush E. ist der Redaktion bekannt.

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