Massiver Vertrauensverlust

Die Kritik am Quarantäne-Vorgehen in Neukölln ist groß.

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 5 Min.

»Wir sind am Limit«, sagt die junge Sozialarbeiterin Andrea. Es ist spät am Abend in Neukölln, man kann das Papier für die Notizen kaum noch vor Augen sehen. Die 30-Jährige sagt, sie habe den ganzen Tag keine Pause zum Essen gefunden - und in den vier Jahren, die sie hier im Bezirk Familien betreue, noch nie solche Zeiten wie diese erlebt. Und wütend sei sie, wütend darüber, dass »die Arbeit, die wir hier über Jahre aufbauen, in zwei Wochen wieder eingerissen wird«. Die junge Frau ringt sichtlich um Fassung, als sie sagt: »Ich habe Angst, dass wir durch all das die Menschen wieder verloren haben, deren Vertrauen wir mühsam erkämpft haben.«

15 Familien begleitet die Sozialarbeiterin derzeit im von SPD-Politiker Martin Hikel regierten Bezirk. Seit Anfang Juni ist sie pausenlos auf den Beinen, vermittelt, beruhigt, spricht, kämpft um Unterstützung. Hier waren drei Schulkinder, die im selben Wohnkomplex zu Hause sind, Anfang Juni positiv auf das Coronavirus getestet worden. Ihr Wohnort ist kein Sozialbau, trotzdem leben dort viele Menschen auf vergleichsweise engem Raum zusammen. Weil sich, wie der Bezirk verlautbaren ließ, die Strategie der Kontaktnachverfolgung als »schwierig« und das Infektionsgeschehens als nicht »eindeutig zu rekonstruieren« erwies, verhängte das Bezirksgesundheitsamt am 13. Juni gemäß einer »sozialräumlichen Eindämmungsstrategie« über knapp 370 Haushalte an sieben Standorten eine kollektive Quarantäne. »Aufgrund der beengten Wohnverhältnisse auch außerhalb der Wohnungen - Hausflure, Innenhöfe -, um eine wirksame Eindämmung zu erreichen«, wie es in einer Erklärung des Bezirks auf nd-Nachfrage heißt.

Eine wirksame Informationsstrategie für die Betroffenen hatte der Bezirk allerdings nicht parat. Stattdessen bemühte man wiederkehrende Bilder von »abgeschottet lebenden Bevölkerungsgruppen, die schwierig zu erreichen« seien, so CDU-Gesundheitsstadtrat Falko Liecke, der als sozialpolitischer Hardliner gilt. »›Schwierig‹ sind die Leute, weil sie diskriminiert werden«, entgegnet Andrea. »Liecke macht es schwierig«, fügt sie hinzu.

»Es hat eine Woche gedauert, bis die Mitarbeiter des Gesundheitsamtes für Sprachmittler gesorgt haben, die den Betroffenen erklären konnten, was Quarantäne eigentlich bedeutet«, berichtet ein Sozialarbeiter, der in einem Verein in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem erwähnten Wohnkomplex beschäftigt ist. Eine Kollegin mit den entsprechenden Sprachkenntnissen hätte dann notdürftig einen Facebook-Post verfasst, in dem den Bewohner*innen die wichtigsten Informationen zugänglich gemacht wurden.

»Natürlich sind die Leute aufgeregt und wütend: Sie wissen nicht, was los ist, können nicht zu ihrer Arbeit gehen, erfahren nicht, wie sie Lebensmittel erhalten«, ergänzt Andrea. »Und wenn du keine Informationen bekommst, kannst du dich auch nicht an die Regeln halten, oder?« sagt die Sozialarbeiterin zu dem Vorwurf, es habe vor Ort Quarantäne-Verstöße gegeben.

Zumal einige Menschen Gefahr liefen, nicht nur ihre Jobs, sondern damit zugleich aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit der Europäischen Union ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren, der diesen an die Ausübung von Beschäftigung knüpft.

Die Beraterin kritisiert den Bezirk dafür, in den ersten Tagen nicht klargestellt zu haben, wie die Versorgung funktioniere. Christian Berg, Sprecher des Bezirksamts, weist das zurück: »Am Freitag, den 19. Juni, stand die Logistik. Nach der Lieferung durch den Lebensmittelhändler gegen 15 Uhr wurden bis in den späten Abend hinein alle Haushalte mit Lebensmitteln in 350 Kisten sowie Getränken versorgt.« Und am Abend zuvor, so Berg, habe man auf eine Lieferung von der Tafel zurückgegriffen.

Dies hatte allerdings für Irritationen gesorgt: Da die Menschen die Angebote der Tafel sonst nicht nutzen, erschienen ihnen die abgelaufenen Lebensmittel, die sie erhalten hatten, als Affront - fünf Tage waren seit der Quarantäne-Verhängung da schon vergangen. Delegiert wurde die Übergabe sowie jedwede Koordination an die sozialen Träger im Umfeld. Nach einem »nd« zugespielten Leitfaden werden Anweisungen ausgegeben: »Sie sind die Schnittstelle zwischen den unter Quarantäne stehenden Personen und dem Bezirksamt, Sie sind vor Ort präsent, Sie halten sich grundsätzlich vor dem Haus auf, Sie übernehmen, wo nötig, die Sprachmittlung, Sie verständigen die Polizei, wenn Sie den Verstoß der Quarantäne beobachten«, heißt es dort unter anderem.

»Plötzlich stehen wir da als Vertreter der Behörden, derselben Behörden, mit denen viele Menschen, die wir betreuen, eine sehr lange Diskriminierungsgeschichte verbinden«, erklärt Andrea die Widersprüche, in die sie so gerate. Ihre Empathie gelte aber den Menschen, die sie sonst gegen institutionelle und öffentliche Herabwürdigung verteidige. »Alle Schmerzen durch die seit jeher erfahrenen Vorurteile seien nun wieder an der Oberfläche, hat mir gerade ein Vater erklärt«, berichtet sie und raucht eine Zigarette - »nur wegen dem Stress«, meint sie. »Er sagt, er werde das Land verlassen, wenn diese Erfahrungen nicht aufhören. Bisher seien sie die Zigeuner gewesen, nun auch noch die Corona-Bringer«, gibt sie die Erfahrung wieder, die unter Antiziganismus zusammenfasst, was Menschen, die Sinti und Roma sind oder als solche wahrgenommen werden, alltäglich widerfährt. »Das sind Menschen, die sind hierher gekommen, weil sie für ihre Kinder eine bessere Zukunft wollen«, sagt sie - Kinder, die im Übrigen allen Klischees widersprechen würden, die in die Schule gehen wollten, die »stark« seien.

Linke-Landesvorstand Hamze Bytici bezeichnete die kollektiv verhängte Quarantäne gegenüber »nd« als Menschenrechtsverstoß. Demgegenüber sagt der Rechtsanwalt Rolf Stahmann: »Es mag die eine oder andere Maßnahme gegen bloß Ansteckungsverdächtigte unverhältnismäßig überzogen sein, was gerichtlich beim Verwaltungsgericht überprüfbar ist. Aber in Hinblick auf das Risiko eines neuen unkontrollierbaren Ausbruchs der Erkrankung in ganz Berlin halte ich verschärfte Maßnahmen bei den Hotspots für sehr nachvollziehbar.«

Für die meisten Bewohner*innen der Neuköllner Häuser wird die Quarantäne am Samstag ablaufen. Für Andrea kein Grund, um aufzuatmen: »Ich hoffe, dass diese Ereignisse nicht einfach mit der Zeit in Vergessenheit geraten.« Eine öffentliche Entschuldigung stünde an, ein deutliches Zeichen, dass die Menschen durch die Vorgänge nicht diskriminiert werden sollten. »Man muss sich hinsetzen und mit den Leuten reden, ihnen helfen mit Wohnung und Arbeit.« Martin Hikel habe dies immerhin angekündigt. Trotzdem werden die kommenden Wochen hart, sagt die Sozialarbeiterin. Die Herausforderung sei nun, die Leute zurückzugewinnen.

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