Spielzeit im Nebel

Die Berliner Theater müssen ihre Vorstellungen den Corona-Regeln anpassen

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Zuschauerraum im Großen Haus ist bereits entkernt. Jede zweite Sitzreihe ist abmontiert, und auch zwischen den verbliebenen Sitzen sind Lücken. Für Nostalgiker mit Dentaltrauma mag dies an ein schadhaftes Gebiss erinnern: Ein Zahn hier, daneben eine Lücke, dann zwei Zähne, und wieder eine Lücke. Allerdings ist die neue Anordnung auch bequem. Mal die Beine ausstrecken können im Theater - die Vorfreude auf den Neustart im August steigt auch deshalb.

Finanziell ist die neue Sitzordnung für Intendant Oliver Reese allerdings ein Problem. »Die Kapazität ist von 700 Plätzen auf 200 reduziert«, sagt Reese zu »nd«. Das bedeutet Einnahmeausfälle. Durchgerechnet hat Reese das noch nicht bis auf den letzten Cent. »Wir versuchen, es mit Doppelvorstellungen am Wochenende und weniger Schließtagen zu kompensieren«, blickt er auf die nächste Saison voraus. Weil auch die Umbauten von Bühnenbild zu Bühnenbild komplizierter werden - die Technik-Abteilungen sind zur Vermeidung der Komplettquarantäne bei möglichen positiven Corona-Fällen in streng voneinander getrennte Gruppen aufgeteilt -, wird der neue Spielplan auch stärker nach Blöcken geordnet als sonst. Mehrere Tage nacheinander wird die gleiche Inszenierung laufen. Das bedeutet weniger Aufwand beim Einrichten und auch weniger Schließtage aufgrund der reduzierten Umbauten. Ob all diese Maßnahmen das zu erwartende Einnahmedefizit ausgleichen, weiß Reese natürlich nicht. Letztlich weiß er ja nicht einmal, ob er seinen veränderten Spielplan überhaupt realisieren kann.

Immerhin ist das Traditionshaus Vorreiter in Sachen Desinfektion. Letzte Woche nebelte das bayerische Unternehmen BPS mit einem Desinfektionsaerosol auf der Basis von Wasserstoffperoxid die Innenräume des Theaters ein. »Diese Desinfektionsmittel-Aerosole machen die Krankheitserreger unschädlich. Sie durchdringen den gesamten Raum inklusive der schwer oder nicht zugänglichen Schattenflächen wie beispielsweise den Bereich hinter einem Bilderrahmen«, teilt das Unternehmen »nd« mit. Erreicht werde eine mindestens 99,99-prozentige Desinfektion, behauptet der Hersteller. Das Mittel wurde bereits 2017 auf seine Wirksamkeit gegen den Corona-Stamm getestet, dazu gehören unter anderem die Mers- und Sars-Viren.

Mindestens drei Stunden dauert die Desinfektion an. »Danach kann die Konzentration heruntergesetzt werden und Personen können sich wieder im Raum aufhalten«, erklärt ein Sprecher des Unternehmens. »Die Vernebelung muss immer dann wiederholt werden, wenn eine neue Kontamination stattgefunden haben könnte«, sagt er in Bezug auf die Häufigkeit der Anwendung. Bei jedem vermuteten positiven Fall müsste dann also neu vernebelt werden. Für kleinere Räume bietet die Firma auch Ultraschallgeräte zur Verteilung des Mittels an.

Das Berliner Ensemble ist der erste größere Klient aus dem Kulturbereich. »Mit AMOAIR desinfizieren wir bereits seit mehreren Jahren unter anderem Büroräumlichkeiten, Ferienwohnungen, Hotels, Restaurants sowie ein Kasino. Aufgrund der Arbeit mit dem Berliner Ensemble kommen nun vermehrt Anfragen aus dem Kulturbereich, auch aus dem außereuropäischen Ausland«, teilt BPS mit. Weitere Kapazitäten - auch für den Kulturbereich - seien vorhanden. »Unsere Hersteller können pro Tag ein bis fünf Großgeräte bauen und 40 bis 50 der kleineren«, heißt es.

Auf dieser Ebene könnte es also klappen mit dem Neustart. Wie viele Kulturanbieter im Spätsommer aber überhaupt noch ihren Betrieb aufrecht erhalten werden können, steht auf einem anderen Blatt. In der Berliner Musikszene sorgt aktuell für Empörung, dass auch nach der jüngsten Corona-Verordnung Chorsingen in geschlossenen Räumen verboten bleibt. Diese Einschränkung beträfe auch die Opernhäuser.

Von den am vergangenen Freitag im Nachtragshaushalt beschlossenen 525 Millionen Euro Corona-Soforthilfen profitiert die Kultur immerhin überproportional. »Im normalen Haushalt liegt der Kulturanteil bei etwa zwei Prozent. Im Soforthilfeprogramm kommen 55 Millionen Euro direkt der Kultur zugute«, sagt Daniel Bartsch, Sprecher von Kultursenator Klaus Lederer (Linke), zu »nd«. Die Summe setze sich zusammen »aus 30 Millionen Euro für die Soforthilfe von September bis November, 18 Millionen Euro für Stipendien für die künstlerische und kuratorische Entwicklung sowie 7 Millionen Euro für Projekte im Stadtraum«, so Bartsch weiter. Veranstaltungshäuser können zudem Mietzuschüsse (90 Millionen Euro Gesamtvolumen) beantragen und Solo-Selbstständige, kleine und mittlere Unternehmen Zuschüsse für Digitalisierungsprojekte (80 Millionen Euro Gesamtvolumen).

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