Historische Chance für Gewerkschaften

Anke Herold (Öko-Institut) über die notwendige Entscheidung zwischen Strukturerhalt und Gestaltung des Wandels

  • Anke Herold
  • Lesedauer: 3 Min.

In der Klimakolumne vom 18. Juni 2020 hat Tadzio Müller die Frage nach dem Verhältnis zwischen Klimagerechtigkeits- und Gewerkschaftsbewegung gestellt. Auf europäischer Ebene ist sozial-gerechter Wandel für den Klimaschutz unter dem Stichwort »Just Transition« (gerechter Übergang) gerade ein großes Thema: Um den sozioökonomischen Wandel in Regionen zu fördern, die von fossilen Brennstoffen und kohlenstoffintensiven Industrien abhängig sind, nahm die EU-Kommission im Januar den Vorschlag zur Schaffung eines »Just Transition Fund« an – er soll die EU-Regionen unterstützen, die vom Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft am stärksten betroffen sind.

Im Zusammenhang mit der Wirtschaftsförderung aufgrund der Coronavirus-Pandemie wurden im Mai die Mittel für diesen Fonds von 7,5 auf 40 Milliarden Euro aufgestockt. Er ist dabei nur eine von drei Säulen des »gerechten Übergangsmechanismus«, der Investitionen in Höhe von mindestens 150 Milliarden Euro in der EU mobilisieren soll. Mit diesen Mitteln soll die Umsetzung territorialer Just-Transition-Pläne in den EU-Mitgliedstaaten finanziert werden.

Eigentlich sollte dieses Thema die Industriegewerkschaften in Deutschland auf den Plan rufen, wenn sie einen grünen Industriewandel aktiv mitgestalten wollen. Doch die Realität scheint anders auszusehen. Der DGB hat vor ein paar Tagen eine neue Broschüre veröffentlicht mit dem Titel »Den Strukturwandel gestalten: So kann es gehen«. Hierin stellt der Dachverband konkrete Beispiele für gewerkschaftliche Strukturpolitik aus, die andere inspirieren sollen, gerade auch im Hinblick auf die Herausforderung des Klimaschutzes.

Das liest sich dann so: Der gewerkschaftliche Verein »Ja zur A94« habe erfolgreich für das Ziel des Ausbaus dieser Autobahn in Südostoberbayern gekämpft. Gleichzeitig werden als Grund für die Verkehrsprobleme in der Region zu viele Gütertransporte per Lkw angegeben, da die Zugverbindungen an die Industriestandorte nur eingleisig ausgebaut und nicht elektrifiziert seien. Der Verein kämpft weiter für die Verlängerung der Autobahn – nicht für die Verlagerung des Gütertransports auf die Bahn.

Ein anderes Beispiel kommt aus dem Münsterland. Dort hat der Regionalrat entschieden, nach 2020 aus Naturschutzgründen im Teutoburger Wald keine neuen Genehmigungen für den Kalkabbau mehr zu erteilen. Die Strukturpolitik der Gewerkschaft besteht darin, dieses Verbot zu kippen und über die EU-Ebene zu beeinflussen, dass auch in Naturschutzgebieten Abbaugenehmigungen erteilt werden.

Einziges Beispiel in der gesamten Broschüre für eine grüne Transformation ist der DGB Nordfriesland, der sich für bessere gesetzliche Bedingungen für die Windenergie einsetzt. Die Bundesregierung hat es durch eine inkonsequente Förderpolitik und aktive Hemmnisse geschafft, Zukunftsindustrien zu neuen Problembranchen mit Arbeitsplatzverlusten zu machen. Die Arbeitsplätze in der Photovoltaikbranche in Deutschland wurden zwischen 2012 und 2013 von 100 300 auf rund 56 000 halbiert.

Nach Zahlen des Bundesverbands Windenenergie wurden zwischen 2016 und 2017 25 000 Arbeitsplätze in der Windbranche abgebaut, das heißt in nur einem Jahr gingen mehr Arbeitsplätze in der Windenergie verloren, als es insgesamt in den Kohlerevieren noch gibt. Außerhalb der betroffenen Regionen war der Protest der Gewerkschaften im Hinblick auf den Verlust der Arbeitsplätze in der Wind- oder Solarbranche deutlich geringer als der Protest für den möglichst langen Erhalt der Kohle. Die Gewerkschaften scheinen weiterhin vor allem an Abfindungen und Übergangsregelungen für die Arbeitsplätze in Krisenindustrien interessiert.

Tadzio Müller fordert in seiner Kolumne, die Debatte darüber zu beginnen, warum die Industriegewerkschaften in den letzten Jahrzehnten zu jenen gehört haben, die sozial-ökologische Transformationen in Schwerindustrieregionen verhindert oder zumindest verzögert haben. Diese Debatte ist sehr zeitkritisch, denn es ist ein anderes Handeln notwendig. Es gibt gerade eine historische Chance für die Gewerkschaften, die bereitgestellten EU-Mittel zu nutzen und mit den Regionen, Unternehmen, Wissenschaftlern und Umweltverbänden die grüne Transformation zu einer sozial gerechten zu machen. Bleibt zu hoffen, dass sie diese Gelegenheit tatsächlich im Sinne eines zukunftsgerichteten Wandels für mehr Klimaschutz nutzen.

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