»Es ist unvorstellbar grausam, welchen Judenhass Stephan B. verbreitet hat.«

Rechtsextremer Stephan B. steht wegen zweifachen Mordes und mehrfachen Mordversuchs vor Gericht

  • Lesedauer: 4 Min.

Magdeburg. Unter internationalem Medieninteresse hat am Dienstag gut neun Monate nach dem antisemitischen Anschlag von Halle der Prozess gegen den Attentäter begonnen. Aufgrund des Medienandrangs und der strengen Sicherheitskontrollen startete der erste Verhandlungstag in Magdeburg mit fast zwei Stunden Verspätung. Zunächst wurde die Anklageschrift verlesen. Die Anklage wirft dem 28-jährigen Tatverdächtigen Mord in zwei Fällen und versuchten Mord in neun Fällen vor. Ihm droht bei einer Verurteilung eine lebenslange Freiheitsstrafe. Zudem kommt eine anschließende Sicherungsverwahrung in Betracht. Zu Beginn kündigte der Angeklagte an, eine Aussage machen zu wollen.

Stephan B. erschoss am 9. Oktober 2019 in Halle eine 40 Jahre alte Passantin und in einem Döner-Imbiss einen 20 Jahre alten Mann. Der Angeklagte filmte seine Tat und verbreitete die Aufnahmen per Livestream im Internet. Aus einer antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Motivation heraus soll er den Mordanschlag auf Juden in der Synagoge in Halle geplant haben. Er versuchte dabei mit Sprengsätzen und Schusswaffen in die abgeschlossene Synagoge zu gelangen, in der sich zum höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur 52 Gläubige aufhielten. Er scheiterte aber an der Tür.

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Das Gerichtsverfahren gilt als eines der größten und bedeutendsten in der Geschichte Sachsen-Anhalts: 13 Straftaten werden dem Angeklagten angelastet, darunter Mord und versuchter Mord.

43 Nebenkläger ließ das Gericht vor Prozessbeginn zu und benannte insgesamt 147 Zeugen. Die Anklage der Bundesanwaltschaft umfasst insgesamt 121 Seiten. Das Gericht hat für das Verfahren zunächst 18 Verhandlungstage bis Mitte Oktober angesetzt. dpa/nd

»Keine Bühne dem Täter«

Vor dem Gerichtsgebäude hatten sich Menschen am Morgen aus Solidarität mit Betroffenen, Hinterbliebenen und Opfern versammelt. Die Kundgebung unter dem Motto »Solidarität mit den Betroffenen - keine Bühne dem Täter« will dafür sorgen, dass die Nebenklägerinnen und Nebenkläger nicht allein in den Prozess gehen, hieß es von den Veranstaltern. Es sei ein Ort der Trauer, der Wut und der Forderungen. Vor dem Prozessbeginn sprachen die Veranstalter von rund 100 Teilnehmern.

Am Dienstagmorgen sprach in Magdeburg auch die Nebenklägerin Christina Feist, die während des Anschlags in der Synagoge in Halle war. Sie wies auf einen alltäglichen Antisemitismus in Deutschland hin und forderte Zivilcourage. »Antisemitismus und rechtsradikale Ideologie sind in Deutschland kein neues Phänomen. Antisemitische Übergriffe sind ein trauriger Teil unseres alltäglichen Lebens und sind somit Symptome eines zutiefst in der deutschen Gesellschaft verwurzelten Antisemitismus.« Und weiter: »Es ist allerhöchste Zeit, dass wir diese schamvolle Wahrheit endlich anerkennen.« Jeder Angriff sei ein Angriff auf die Demokratie, auf die offene Gesellschaft. Zivilcourage und Einmischen seien gefragt.

Deutlich wurde auch schon vor dem Prozessbeginn, dass die Nebenkläger sich vor allem eine Beleuchtung der Hintergründe erhoffen. Es gehe darum, zu klären, wie sich der Täter so radikalisieren konnte, sagte Juri Goldstein, Anwalt von Besuchern der Jüdischen Gemeinde in Halle. Es gehe um die Frage: Wie konnte jemand so viel Hass entwickeln »auf die Menschen, die er gar nicht kennt«. »Wir werden versuchen, diese antisemitische Straftat so gut wie möglich aufzuklären«, erklärte Goldstein.

Zentralrat fordert lückenlose Aufklärung

Zum Prozessauftakt rief der Zentralrat der Juden dazu auf, beim Urteil die volle Härte des Gesetzes anzuwenden. Zudem müssten die Hintergründe der Tat lückenlos aufgearbeitet und der Frage nachgegangen werden, ob der Attentäter Unterstützer hatte und in rechte Netzwerke eingebunden war, erklärte Zentralratspräsident Josef Schuster am Dienstag in Berlin: »Es ist unvorstellbar grausam, welchen Judenhass Stephan B. verbreitet hat.« Der Anschlag habe die jüdische Gemeinschaft zutiefst erschüttert und traumatisiert. »Was die Menschen an Jom Kippur in der Synagoge von Halle durchleiden mussten, bleibt unvorstellbar«, so Schuster.

Zuvor hatte sich auch die frühere Präsidentin des Zentralrates, Charlotte Knobloch, für ein hartes Urteil ausgesprochen. Es sei wichtig, den Täter »mit der ganzen Härte des Gesetzes zu bestrafen«, sagte sie der »Rhein-Neckar-Zeitung« (Dienstag). In dem Verfahren sollten die Untiefen des Hasses offengelegt werden, »in denen dieser junge Mann sich im Internet derart radikalisieren konnte«, so die Präsidentin der Jüdischen Kultusgemeinde Münchens.

Der bayerische Antisemitismus-Beauftragte Ludwig Spänle schrieb dem Verbrechen eine »neue Dimension« zu. »Durch einen terroristischen Anschlag auf eine Synagoge an einem hohen jüdischen Feiertag wurde ein Punkt überschritten«, sagte er dem Bayerischen Rundfunk.

Der Grünen-Politiker und Prozessbeobachter, Cem Özdemir, warnte davor, die Tat als Einzelfall abzutun: »Der radikalisiert sich nicht einfach so und unbeobachtet.« Es brauche »Mechanismen des Hinschauens, dass man dessen frühzeitig gewahr wird«, sagte Özdemir im TV-Sender RTL/ntv.

Unterdessen hofft auch der Vater des bei dem Anschlag getöteten Kevin S., dass der Attentäter zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit Sicherungsverwahrung verurteilt wird. »Ich meine, eine gerechte Strafe gibt es in dem Fall nicht. Aber dieser Mann hat unter freiem Himmel nichts mehr zu suchen«, sagte Karsten Lissau als Nebenkläger im ARD-Magazin »Fakt«. Agenturen/nd

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