Ich ist immer ein anderer

Das Gefängnistheater »aufBruch« zeigt Shakespeares »Sommernachtstraum«.

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Natur hat es gut. Das Wasser saufende Grün wächst ganz von allein. Allerdings, manchmal wuchert Natur auch als verborgenes Krebsgeschwür in uns, das setzt den heiteren Allmachtsgefühlen dann ein betrüblich-vorzeitiges Ende. Aber vielleicht hat man Glück, also noch etwas Zeit bis zum unausweichlichen Welken!

Regisseur Peter Atanassow und sein Dramaturg Hans-Dieter Schütt wissen um die Frist in dieser Art Sommernachtstraum, wie ihn sich Shakespeare in seiner abgründigen Komödie im Wald vor Athen austoben lässt. Das geht vorbei, von ganz allein, wie jede Überfülle des Augenblicks? Für das Theater wäre das eine unzulängliche Auskunft. Kunst schlägt Schneisen durch den Wald, sie ist die Heckenschere für jedes freigelassene Grün. Auch für jenes hier in der lang vergessenen Freiluftbühne in Berlin-Jungfernheide. Fast hatte die Natur sie sich schon wieder zurückgeholt - die Holzbänke des Amphitheaters sind nach jahrzehntelangem Leerstand vermodert, die Spielfläche ein einziger von Mücken umschwirrter Dschungel. Man denkt hier mehr an Tschernobyl als ans nahe gelegene Charlottenburg.

Ein guter Spielort für das »aufBruch«-Gefängnistheater, das sich einmal im Jahr auch mit einer Produktion außerhalb der Gefängnismauern und einem gemischten Ensemble aus Freigängern, Strafentlassenen und freien Schauspielern vorstellt. Dieses Modell ist in Corona-Zeiten ein Segen, denn in die Gefängnisse kommt derzeit kein Publikum, und auch hier unter freiem Himmel in der Jungfernheide herrschen strenge Auflagen: Die Anzahl der Plätze ist auf 70 begrenzt, jede zweite Reihe bleibt frei und die Zuschauer müssen 1,50 Meter Abstand voneinander halten. Beschwerliche Bedingungen, aber immerhin wird endlich wieder gespielt!

An bloße heitere Sommernachtsträume glauben weder Regie noch die Schauspieler von »aufBruch«. Ihre Erfahrungen sprechen dagegen. Jeder Traum ist ein Fluchtversuch, ein Ausbruch auf Zeit aus jener engen Zelle, in die uns alle der Alltag sperrt - auch jenseits des Gefängnisses. Peter Atanassow ist dieser Gesichtspunkt wichtig: Die herrschenden Machtverhältnisse lassen sich auch aus überbordenden erotischen Fantasien nicht vertreiben. Wer mit Geld und Macht ausgestattet ist, kann sich andere Träume leisten als diejenigen, die sich aus purer Not fortträumen an einen besseren Ort, der sich beim Aufwachen als bloße Illusion erweist. Darum helfen sie - bei Shakespeare um 1600 wie auch in den Vollzugsanstalten in Tegel oder Moabit - so häufig nach mit rauschverlängernden Stoffen. So geraten wir unweigerlich in die mörderische Ersatzwelt der Drogen.

Um den Traum nicht zu leichtgewichtig werden zu lassen, ist der Shakespeare-Komödie ein chorisch gesprochener Text aus Bernard-Marie Koltès’ »In der Einsamkeit der Baumwollfelder« vorangestellt. Darin ist die »Schicksalslinie« markiert, die Illusion von Freiheit in einer Welt, in der man mit Glück handelt wie mit einer Ware - und »der Handel will bewaffnet sein«. Um diesen mit Gewalt und List geführten Kampf ums trügerische Glück geht es in den kommenden knapp zwei Stunden, umsurrt von blutsaugenden Mücken, gegen die man sich jedoch am Eingang mit Mückenspray wappnen kann. Wenn man sich doch ebenso gegen die hirnvernebelnde Macht der Triebe schützen könnte! Aber die Torheit, die aus den Begierden resultiert, bleibt nun mal der dunkle Schatten solch tagheller Dinge wie Klugheit und Moral.

Aufmarsch der Hutträger, bei denen der Zuschauer sofort mit den Augen nach dem Colt am Gürtel sucht. Doch diese Cowboys, im Athener Märchenwald wie Schiffbrüchige gestrandet, irren orientierungslos durchs Unterholz, jenes überbordende Grün auf der Spielfläche, das die Regie klug zu nutzen versteht. Zwei Hochsitze bieten auch keinen Ausblick, sind eher Fingerzeige der Ratlosigkeit. So ist das, wenn man im Traum gefangen ist, da wird das Liebesversprechen unweigerlich zum Horrortrip. Denn den, dem man selbst blindwütig hinterherläuft, wird man nicht erjagen. Aber man hat ohnehin genug damit zu tun, sich selbst dem zu entziehen, der einem mit seiner lästigen Begierde nachstellt. Lauter falsche Versprechungen und ernüchternde Erfüllungen.

Der Wald ist ein gefährlicher Ort, in dem man leicht verloren gehen kann. Welch Sinnbild des Unbewussten, das wir verdrängen! Aber eben auch - so Hans-Dieter Schütt - ein »Dilettanten-Dorado«. Hier kann jeder, wie unter einer Tarnkappe verborgen, ausprobieren, jemand anderes zu sein. Und da passiert es, dass man plötzlich als Esel erwacht - ein Tier von beharrlicher Stärke, die sich von Sturheit nicht unterscheiden lässt.

Shakespeares Komödien auf die Bühne zu bringen, gehört bekanntlich zu den schwierigen Unternehmungen, denn ihr Witz ist einerseits in Wortspielen verborgen, andererseits unvermutet derb auftrumpfend. Eine Frage von Rhythmus und Tempo, die ein routiniertes Virtuosentum der Darsteller eigentlich geboten scheinen lässt. Und das ist bei diesem in jeder Hinsicht gemischten Ensemble nichts, worauf sich dieser »Sommernachtraum« gründen ließe. So mancher stößt hier an seine Grenzen, aber das scheint unvermeidlich. Atanassow findet jedoch eine gemeinsame Spielbasis, ein Gauklertum, in dem die divergierenden Lebenserfahrungen und Auftrittsmotivationen der Spieler wieder mit Geist und Witz zusammenfinden.

Im »Sommernachtstraum« geht es nicht zuletzt um die Neurosen der Schauspieler selbst. Was im »Hamlet« mitten im Wahn von Wahrheit zeugen soll - der Auftritt der Schauspieltruppe am Königshof -, wird im »Sommernachtstraum« zum selig-selbstgenügsamen Wahn. Lebt ihn, solange ihr könnt, es gibt nichts Besseres! Diesem Ruf folgen auch Demetrius und Helena (Christian Krug und Bianca Waechter) sowie Lysander und Hermia (Hans-Jürgen Simon und Maja Borm) - und beweisen damit die Lust am Labyrinth.

Einige Spieler greifen sich den durch die Nacht irrlichternden Traum mit erfrischender Energie, so Frank Zimmermann als Elfenkönig Oberon und Para Kiala als sein mit Lust am Chaos Fehler über Fehler produzierender Diener Puck. Letzterer sabotiert hier wunderbar einfallsreich das Klischee des eifrigen schwarzen Südstaaten-Sklaven. Mit karierter Hose und gestreiftem Hemd, samt Hut und Sonnenbrille, beweist er sich als heimlicher Herr. Denn er ist es schließlich, der die Befehle Oberons in die Praxis umsetzt und dabei (mitsamt diverser Zaubertränke) nach eigenem Gutdünken Verwirrung stiftet. Überhaupt, Persiflage und Travestie ziehen sich durch den Abend. Alle Identitäten sind immer nur geborgt und vorläufig auch.

Ein zeitloses Lehrstück in Sachen Theater ist es schließlich, dem Stück im Stück beizuwohnen. Denn die Handvoll Handwerker um Zettel (Mathis Koellmann) probt, sich dabei beharrlich selbst im Wege stehend, im Wald von Athen das Laienspiel von Pyramus und Thisbe, mitsamt jener berühmten Wand, die sie beide trennt und mittels einer Ritze dann doch wieder verbindet. Seltsame, geradezu unerklärliche Dinge geschehen den dilettierenden Laien, über die der große Regisseur Alexander Lang einmal sagte: »Es sind würdige Männer, die sich in all ihrer Lächerlichkeit ernst nehmen. Sie nehmen das Spiel der Liebe ernst und funktionieren es nicht um ... Ihr Ernst, die Aufgabe zu bewältigen, ist tragikkomisch; denn sie verwirklichen eine Utopie, die keiner ihrer Zuschauer ernstnimmt.«

Weitere Vorstellungen am 25., 26., 29. 7., jeweils um 19 Uhr, Gustav-Böß-Freilichtbühne in der Berlin-Jungfernheide.

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