Lukaschenko-Faktor bröckelt

In Belarus wächst der Widerstand gegen den Präsidenten

  • Felix Jaitner
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn in Belarus der Präsident gewählt wird, steht das Ergebnis normalerweise im Vorfeld schon fest. Seit 26 Jahren ist Alexander Lukaschenko an der Macht, länger als jeder andere Staatschef in Europa. Doch vor den Wahlen am 9. August regt sich massiver Widerstand gegen das Regime. Nachdem vergangene Woche im ganzen Land Zehntausende gegen den Langzeitpräsidenten protestierten, folgten am Donnerstag trotz eines Veranstaltungsverbotes circa 5000 Menschen dem Aufruf der Oppositionskandidatin Natalja Tichonowskaja.

Für Lukaschenko sind die Proteste Teil eines »gut orchestrierten Szenarios«, die von mächtigen Akteuren im Hintergrund finanziert würden. Dagegen setzt er auf Altbewährtes: »Wird Belarus überleben? Wird es diesen hybriden Krieg überleben?«, fragte der Staatschef am Dienstag in einer Rede im gewohnten nationalistischen Duktus. Und legte nach: »Wir werden das Land nicht an Euch übergeben. Unabhängigkeit ist teuer, aber sie ist es wert.«

Nationale Unabhängigkeit und (autoritäre) Stabilität sind die zentralen Eckpfeiler der Lukaschenko-Herrschaft. Schon in den 1990er Jahren inszenierte er sich als Garant für Ruhe und Ordnung, während Russland oder die Ukraine vermeintlich in den Wirren der kapitalistischen Transformation zu versinken drohten. Zu dieser Zeit folgten fast alle postsowjetischen und osteuropäischen Staaten den Rezepten der neoliberalen Schocktherapie, setzten auf eine Liberalisierung des Außenhandels, strichen buchstäblich über Nacht staatliche Subventionen für die Industrie und privatisierten die Staatsbetriebe in einem Tempo, das selbst die westlichen Beobachter in Staunen versetzte. Die Folge dieser Politik waren Massenarmut und die Entstehung einer nationalen Oligarchie, die bis heute die produktiven Wirtschaftssektoren kontrolliert.

Die erste belarussische Regierung nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 unter Stanislaw Schuschkewitsch folgte diesem Kurs, stieß jedoch nicht nur in der Bevölkerung rasch auf Widerstand, sondern auch bei den Betriebsdirektoren. Denn einheimische Maschinen und Agrarprodukte waren auf den westeuropäischen Märkten nicht konkurrenzfähig. Da Belarus über keine nennenswerten Rohstoffe verfügt, hätte eine Deindustrialisierung dramatische wirtschaftliche und soziale Folgen gehabt. Der gelernte Agrarökonom und Sowchosen-Direktor Alexander Lukaschenko goss diese Forderungen in ein politisches Programm und gewann 1994 in einer von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kritisierten Präsidentschaftswahl gegen Schuschkewitsch.

Kaum im Amt stoppte Lukaschenko zum großen Unmut der westlichen Regierungen den Privatisierungsprozess und baute den staatlichen Einfluss in Schlüsselbereichen wie der Landwirtschaft, dem Finanzsektor oder dem Maschinenbau aus. Um die Produktion zu stabilisieren, erhielten einheimische Betriebe günstigen Zugang zu Krediten. Entgegen der Warnungen westlicher Beobachter war die Strategie erfolgreich: Die Wirtschaft erreichte zum Teil zweistellige Wachstumsraten, so dass Mitte der 2000er Jahre sogar vom »belarussischen Tiger« die Rede war. Doch weder gab es Massenarbeitslosigkeit noch entstand eine Oligarchie wie in anderen postsowjetischen Staaten.

Auch in der Außenpolitik legte Lukaschenko neue Schwerpunkte: Anders als sein Vorgänger grenzte er sich vom aggressiven belarussischen Nationalismus ab und setzte stattdessen auf eine wirtschaftliche Reintegration des postsowjetischen Raums, der als wichtigster Absatzmarkt für belarussische Waren große Bedeutung hat. Eine Sonderstellung haben die Beziehungen zu Russland, was Ende der 1990er Jahre in den Russisch-Belarussischen Union mündete, in der neben regelmäßigen politischen Konsultationen auch eine Verteidigungs- und Wirtschaftsgemeinschaft beschlossen wurde. Obwohl Russland damit zum wichtigsten außenpolitischen Verbündeten wurde und abgesehen von seiner Militärpräsenz auch als Energielieferant über beträchtliche Druckmittel verfügt, verfolgte die belarussische Regierung eigene Interessen und widerstand beharrlich weiteren politischen Integrationsbestrebungen Moskaus.

Der Preis für die soziale und ökonomische Stabilität ist der politische Autoritarismus und die systematische Verlagerung von Entscheidungskompetenzen in die Exekutive, die Lukaschenko durch ein Referendum 1996 absichern ließ. Der Verfassungsentwurf »hat einen faulen Kern«, kritisierte der damalige Vorsitzende des Verfassungsgerichts Walerij Tichinja, und sei der Versuch, »das Parlament zu kastrieren«. Die Begrenzung der Amtszeiten des Präsidenten auf zwei Perioden wurde rechtzeitig zur Wahl 2006 abgeschafft, derweil erkennt die OSZE die Ergebnisse der vergangenen vier Präsidentschaftswahlen wegen Betrugs und Einschüchterungen nicht an. Die politische Opposition in Belarus wird systematisch gegängelt - auch vor dieser Wahl. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisiert in einer Analyse »eine dramatische Zunahme bei der Verfolgung von Oppositionellen, Medienschaffenden und Protestierenden« seit Beginn des Wahlkampfes in Belarus. Mindestens 775 Personen wurden seitdem verhaftet, so Amnesty.

Der Grund ist hausgemacht. Denn Lukaschenkos Stabilitätsversprechen verliert angesichts einer seit Jahren anhaltenden Wirtschaftskrise an Überzeugungskraft. Die Integration des postsowjetischen Raums, für Belarus hoch bedeutsam, stockt. Darunter leidet auch das Verhältnis zu Russland, das durch die Anschuldigungen Lukaschenkos, russische Söldner hätten versucht, das Land vor den Wahlen zu destabilisieren, zusätzlich leidet. Erstmalig gehen nun auch Teile der belarussischen Elite auf Distanz zum Präsidenten. Der inhaftierte Kandidat Wiktor Babariko ist Vorsitzender der Belgazprombank, einer Tochter der russischen Gazprombank und Walerij Zepkalo, dem die Kandidatur ebenfalls verweigert wurde, war Botschafter in den USA. »Es wird immer weniger an die Ordnung und Ruhe erinnert, die für das Land traditionell berühmt waren, sondern an Turbulenzen und womöglich bevorstehende Veränderungen«, schreibt die liberale russische Tageszeitung »Kommersant« in einer Wahlanalyse zu Belarus. Im Land brodelt es. Und obwohl oder gerade weil Lukaschenko diese Wahl wohl gewinnen wird, drohen die kommenden 26 Jahre kaum so stabil zu werden.

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