Wenn die Eule der Minerva sich im Morgengrauen erhebt
Zweimal Hegel: Sebastian Ostritsch über den Weltphilosophen und Slavoj Žižek über technische Zukunftsvisionen
Manchmal sagt der Dank eines Autors mehr als alle Klappentext-Prosa: »Frank Ackermann und den Besuchern des Philosophischen Cafés im Stuttgarter Hegel-Haus danke ich für viele erkenntnisreiche Samstagvormittage, in denen ich die Freude am außerakademischen Philosophieren entdecken durfte, ohne die ich das Unterfangen eines populärwissenschaftlichen Hegel-Buches nie in Angriff genommen hätte.«
Der sich hier bedankt ist der am Philosophischen Institut der Universität Stuttgart lehrende und forschende, 1983 geborene Sebastian Ostritsch. Sein Experiment, einen im Original schwer zu lesenden Philosophen »populärwissenschaftlich« zu vermitteln, ist in hohem Maße gelungen. Ein schönes Buch zu Hegels 250. Geburtstag am 27. August.
Ostritsch folgt dem Leben des späteren »Weltphilosophen« vom strengen Tübinger Stift, wo jener ein Zimmer mit Hölderlin und Schelling teilte und sich mit den Freunden für die Ideen der Französischen Revolution begeistert. Nach dem Abschluss des Studiums der Theologie und Philosophie nahm Hegel Stellen eines »Hofmeisters« (Hauslehrers) in Bern und Frankfurt am Main an. 1801 begann er seine Universitätskarriere als Privatdozent in Jena, wo er in den Tagen von Napoleons Sieg bei Jena und Auerstedt sein erstes bedeutendes Werk, die »Phänomenologie des Geistes« fertigstellte. Nach der Verwüstung seiner Wohnung durch französische Soldaten musste Hegel Jena verlassen und übernahm vorübergehend eine Stelle als Zeitungsredakteur in Bamberg an, arbeitete sodann acht Jahre als Rektor an einem Nürnberger Gymnasium und wechselte schließlich ins Amt des dortigen Schulrats, bevor er für zwei Jahre an der Universität Heidelberg lehrte. In jener Zeit verfasste er sein zweites großes Hauptwerk, die »Wissenschaft der Logik«. Der Biograf folgt der Entwicklung von dessen Dreiklang »Sein, Nichts, Werden« hin zu »These, Antithese, Synthese«, beschreibt Hegels Seinslogik, Wesenslogik und Begriffslogik. Hier nun gelangt aber auch Ostritsch an die Grenzen populärwissenschaftlicher Vermittlung.
Das Epitheton »Weltphilosoph« hat sich Hegel in seiner glanzvollen Zeit an der Berliner Universität verdient, wo er 1818 die Nachfolge auf dem Lehrstuhl von Johann Gottlieb Fichte antrat. Der Berliner Zeit widmet Ostritsch nicht nur biografische Aufmerksamkeit - er überquert wie Hegel oftmals nach der Arbeit in der Universität die Straße Unter den Linden, um die gegenüberliegende Hofoper zu besuchen -, sondern stellt weitere Publikationen und Vorlesungsmitschriften seiner Studenten wie auch das akademische Lehrpensum Hegels vor. Der Biograf, der in Bonn über Hegels Rechtsphilosophie promoviert hat, verhandelt über dessen Ästhetik und Religionsphilosophie. Etwas knapp fällt die Schilderung der nachhaltigen Rezeption von Hegels Werk in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten aus, dessen Einfluss auch auf die Existenzphilosophie sowie den Dialektischen Materialismus von Marx und Engels. Lesern, denen nach Ostritschs populärwissenschaftlicher Aufbereitung Hegels der Appetit nach mehr steht, bietet das reiche Literaturverzeichnis diverse Anregungen.
Dass Hegels Philosophie auch zum Verstehen der Zukunft taugt, davon ist Slavoj Žižek überzeugt. Der slowenische Philosoph macht sich vorsorglich Gedanken über eine Mensch-Maschine und sinniert darüber, ob ein solches »posthumanes« Wesen so etwas wie »freie Entscheidung« oder »freien Willen« besitzen könne. Žižek geht es um die möglichen Auswirkungen eines direkten Anflanschens digitaler Hochleistungsmaschinen ans menschliche Gehirn.
Ausgehend vom Moor’schen Gesetz, demzufolge sich der wissenschaftlich-technische Fortschritt schneller als exponentiell, als angenommen entwickelt, und angesichts des Hypes um die sogenannte Künstliche Intelligenz, werde es höchste Zeit, sich mit der Möglichkeit auseinanderzusetzen, dass der Mensch den sich selbst beschleunigenden unvorstellbaren Rechenleistungen von Computern mit seinem begrenzten Gehirn nicht mehr folgen kann. Was geschieht, wenn unausgesprochenen Gedanken eines Menschen auf andere, ebenso ausgestattete »posthumane« Lebewesen übertragen und auch »beantwortet« werden?
Wie wäre individuelle Freiheit in einer solchen schneller »denkenden« und universell »verdrahteten« Welt, die natürlich drahtlos funktionieren würde, zu definieren? Wie verändert sich beispielsweise unsere Sexualität, wenn unser Begehren bereits dem oder der begehrten Person über Gehirn-Maschine-Schnittstellen bekannt würde?
Žižek ist nicht nur ein origineller Philosoph, sondern auch Psychoanalytiker der Schule nach Jacques Lacan und so bestimmt eine hegelianisch-lacansche Doppelperspektive den Husarenritt des Slowenen in eine Zukunft, die wir uns nicht vorstellen können, in die uns aber gewiss Hegels Philosophie begleiten wird. Nicht umsonst rüstet sich China mit zwei monumentalen Hegel-Übersetzungen für kommende Herausforderungen.
In seinen »Grundlagen der Philosophie des Rechts« hat Hegel die Eule der Minerva als Symbol der Philosophie angerufen: »Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug.« Er meinte damit, dass die Philosophie nur Vergangenes deuten könne, dass sie eine bereits erfahrbare Wirklichkeit voraussetze und nicht aus sich selbst utopische Fantasien entwickeln könne. Žižek nun lässt jedoch die Eule der Minerva nicht in der Abenddämmerung, sondern im Morgengrauen fliegen, im Anbruch einer Zukunft, die ihre eigenen Utopien hervorbringen wird. Dabei nimmt er Bezug auf Hegels Aussage, dass jede neue, »höhere« Gesellschaft ihre eigenen Widersprüche erzeugt, die wir noch nicht kennen können. So auch die »posthumane« Welt der verdrahteten Gehirne. Hier nimmt Žižek den euphorisch-optimistischen Propheten einer »Neuen Schönen Welt« - zum Beispiel der US-amerikanische Futurist Raymond Kurzweil und Elon Musk - den Wind aus den Segeln. Zugleich widerspricht er den Apokalyptikern, denen er sagt: »Was sich der Singularität entzieht, ist nicht meine gelebte Erfahrung, sondern unser Unbewusstes, das mit der Autonomie des Cartesischen Subjekts («Ich denke, also bin ich»; H. L.) korreliert«.
Das alles ist starker intellektueller Tobak, mitunter nicht leichter verständlich als Hegel im Original. Wie man es aber von Žižek gewohnt ist, streut er farbige Beispiele aus der Filmwelt, der Musik und Literatur in seinen Parforceritt durch die Welt der Zukunft und würzt all dies noch mit feinem Humor.
Sebastian Ostritsch: Hegel. Der Weltphilosoph. Propyläen, 315 S., geb., 26 €. Slavoj Žižek: Hegel im verdrahteten Gehirn. A. d. Engl. v. Frank Born. S. Fischer, 283 S., geb., 22 €.
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