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Gewalt, verpackt in Buchstaben
Ein halbes Jahr ist seit dem rassistischen Anschlag in Hanau vergangen. Gedanken über das Gedenken an die Opfer rechter Gewalt
Ich erinnere mich sehr gut an den 19. Februar 2020. Neun Menschen mit Migrationshintergrund wurden durch einen rechtsterroristischen Anschlag ermordet. Kurz davor brüllte der Attentäter: »Ausländer raus!« Zwei Wörter, die ich, meine Familie und Jugendliche aus dem Viertel in Wuppertal, wo ich aufgewachsen bin, früher gehört haben als die Märchen der Gebrüder Grimm.
Der Attentäter zückte eine Waffe. Körper fielen zu Boden wie Kleidungsstücke, die der Wind von den Bügeln reißt, weil die Fenster offenstehen oder zerschlagen sind. Was ich an jenem Tag getan habe, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass sich eine kalte Wut in mir zu einer Faust ballte. Diese Wut drückte mein Herz ins Gehirn. An jenem Tag suchte ich nach einem vernünftigen Grund, warum nicht ich in Hanau in einer Shisha-Bar saß, wie damals, als ich achtzehn war. Ich fand keinen, bis heute nicht.
An den folgenden Tagen sprachen viele von Mitgefühl. Die meisten Zeitungen verurteilten Hass. Bürgerliche sagten, dass sie die Guten seien. Die Intellektuellen legten nach, dass sie sich die Normalität nicht nehmen lassen würden. Binnen einer Woche ließen sich Politiker in Hanau blicken und verschwanden wieder - nachdem sie von den Fernsehteams abgelichtet worden waren und blumige Worte gesprochen hatten, die am folgenden Tag schon bedeutungslos waren. Anschließend überschattete die Krise des Gesundheitssystems den rechten Mordanschlag. Die Vergessenen und Geschlagenen wurden wieder vergessen und geschlagen. Die, die im Namen der Opfer von Hanau Texte schrieben, ohne je das Leben in Armut und mit Diskriminierung gekannt zu haben, verfassten nun Essays über die Vorzüge der Einsamkeit im Lockdown. Es gibt keine Guten, genauso wenig gibt es Böse. Es gibt Herrschaftsverhältnisse.
Dann begann das Schweigen. Dieses Schweigen ist es, wodurch Rassismus spricht. Die Geschichte lehrt: Eine Ideologie des Menschenhasses verschont keinen Menschen. Solche Ideologien verschafft sich der Kapitalismus aber permanent, um von seinen Verbrechen abzulenken. Rassismus - das bedeutet auch vorzeitigen Tod zugunsten jener, die daraus Profite schlagen.
Hanau war nicht der Anfang. Ich denke an die NSU-Mordserie, in die dieser Staat verstrickt ist. Ich denke an das Schweigen der Behörden, der Justiz, der Politik. Der Künstler, der Gelehrten. Wo wart ihr, als Flüchtlingsheime brannten, als Halle an die Nacht vom 9. zum 10. November 1938 erinnerte und als in Kassel einer das Leben verlor? Warum habe ich euch nicht auf der Straße gesehen - nicht einen einzigen Christdemokraten? Manchmal macht auch mich der Hass gegen arme und arbeitende Menschen sprachlos. Bis heute wagt ihr nicht, das Offensichtliche beim Namen zu nennen, die Hetzjagd auf Menschen in Chemnitz und den Mord in einer Polizeizelle in Dessau, an Oury Jalloh. Noch heute denke ich an Rostock-Lichtenhagen, an dieses rauchende Hochhaus. Damals war ich zwei Jahre alt, und als ich drei war, starb ein Teil der Familie Genç bei einem Brandanschlag in Solingen. Und dann: Hanau.
Was haben die zuständigen Behörden seit dem Anschlag getan, was haben sie im Vorfeld des Anschlags getan? Kein Rassist wurde bisher entwaffnet. Kein Beamter wurde bisher zur Rechenschaft gezogen. Kein Politiker und Intellektueller hat Verantwortung übernommen. Die Strukturen bleiben dieselben.
Charakteristisch für diese Haltung ist, was der hessische CDU-Landtagsabgeordnete Heiko Kasseckert am 1. August im »Hanauer Anzeiger« forderte: »Die Erinnerung an diesen schrecklichen Tag mit Bildern, Aufklebern, Blumen und Kerzen im Hanauer Stadtbild dauerhaft aufrecht erhalten zu wollen, ist nicht gut. (...) Wir sollten die Orte der Geschichte, die Hanau ebenfalls hat, wie am Marktplatz das Denkmal ihrer wohl bekanntesten Söhne, der Brüder Grimm, von dieser dunklen Umklammerung befreien. Zur Bewältigung von Trauer gehört auch das Loslassen.« Mit solchen Worten spricht er aus, was viele über die Aufklärungsarbeit der Gedenkinitiative und der Betroffenen von Hanau wirklich denken: Verzieht euch in eure Viertel, wie im Quarantänehochhaus in Göttingen, und verunreinigt nicht die Trophäen der Hochkultur. Im Grunde genommen plädiert Kasseckert für Verdrängung. Seine Worte sind Gewalt, verpackt in Buchstaben, nichts Neues. Gewohnter Spott im Alltag. Die Sprache ist raffiniert: Sie will den Besiegten das Wort verbieten.
Fast alles, was wir aber heute über rechtsradikale Anschläge und rassistische Netzwerke und Strukturen wissen, haben wir dem unermüdlichen Einsatz und dem Druck der Betroffenen, der Unterdrückten, der Antifaschisten und der Solidarität der Leidenden zu verdanken. Haben wir uns zu verdanken. Es ist mehr als eine Schande, wie skrupellos rassistische Vorfälle abgewickelt werden und die soziale Wahrheit der Getretenen liquidiert wird. Es zeigt, dass uns niemand helfen kann, außer wir selbst.
Ich gedenke der Ermordeten, weil Gedenken auch gesellschaftliches Verantwortungsgefühl weckt und gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein zum Handeln gegen Erniedrigung und Entwürdigung auffordert.
Menschen wie dem CDU-Landtagsabgeordneten Heiko Kasseckert möchte ich hiermit antworten: Wir lassen nicht los, weder von unserer Trauer noch von unserer Wut! Wir halten die Gebrüder Grimm so lange fest umklammert, wie wir es für nötig halten und bis wir Auswege aus der Gewalt finden! Wir wollen nicht eure Normalität, wir schaffen unsere eigene. Wir bleiben auf dem Marktplatz in Hanau, dem Opernplatz in Frankfurt, dem Stübenplatz in Hamburg, dem Schlossplatz in Stuttgart und auf vielen weiteren Orten und Plätzen, um Rassismus den Platz zu nehmen.
Denn wir wollen atmen. Wir vergessen die Namen der Ermordeten nicht. Das hieße, uns selbst und unsere Geschichten zu vergessen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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