Erst das Fressen, dann die Moral

Michael Lühmann über die Frage, warum die AfD in der Wählergunst nicht von der Corona-Pandemie profitiert

  • Michael Lühmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Die bundesrepublikanische Gesellschaft, sie ist nervös, wie schon lange nicht. Das Aufstiegsversprechen, längst perdu. Die Schere zwischen Arm und Reich, offener denn je. Das Rentenniveau sinkt, die Mieten steigen. Und inmitten dieser gesellschaftlichen Lage legt die Corona-Pandemie jene Symptome tiefergehender Krise nicht nur systematisch frei, nein, sie verstärkt diese noch durch eine drohende, nachgelagerte Wirtschaftskrise, die zuerst jene »freisetzen« wird, die ohnehin schon in prekären Verhältnissen leben. Parallel dazu blühen Verschwörungsideologien, die extreme, den Umsturz planende Rechte ruft zum »Marsch auf Berlin« und krönt diesen mit Bildern von Reichskriegsflaggen auf den Treppen des Reichstages.

Inmitten dieses gefährlichen Cocktails aus realer Coronakrise, möglicher Wirtschaftskrise und krisenhaften Momenten des Politischen, der Demokratie, vermag der vermeintlich natürliche Nutznießer und Treiber dieser dystopischen Stimmung, die AfD, nicht zu profitieren. Auf gerade einmal noch neun Prozent wird der parlamentarische Arm des Rechtsrucks auf Bundesebene taxiert. Auch in den Ländern verliert die AfD massiv an Zustimmung. Dabei heißt es doch immer, der Rechtspopulismus, hier in Gestalt einer extrem rechten Partei, profitiere von Krisen. Weimar, Wirtschaftskrise, Adolf Hitler - fertig ist der Zusammenhang. Einer, der indes nicht nur nicht richtig ist, sondern auch zu falschen Gegenstrategien führt: zum Versuch, einen kulturellen Konflikt nicht politisch-kulturell lösen zu wollen, sondern mit Verständnis und Geld.

Warum aber vermag die AfD, die rechte Aufwallung, nicht von multipler Krisendynamik profitieren? Zunächst ließe es sich, banal ausgedrückt, mit dem »Fressen« erklären, dass vor der »Moral«, in diesem Fall also Ideologie, komme. Konkret: Die Sicherheit etwa der geringeren Rente steht am Ende über dem ideologischen Kampf gegen das Phantasma einer Merkel-»Diktatur«. In der Rente schließlich trifft historische Erfahrung auf ein spezifisches Wählermilieu: Jene, die bald in Rente gehen, klammern sich bei aller Kritik dann doch an die Erfahrung, dass das deutsche Rentensystem, aus dem Kaiserreich stammend, zwei Weltkriege, Hyperinflation und DDR-Mangelwirtschaft überlebt hat. Letztlich ist die Rente - Stichwort »Fressen« - ein Stabilitätsanker, den mittelalte Wähler ironischerweise nicht in den Händen rechts abgedrifteter Ökonomen sehen wollen. Der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke hat das längst erkannt, der (zentrale) Streit um eine völkische Garantierente vs. eine neoliberale Entsicherung hat hier ihren Ursprung.

Des weiteren übersieht die Angst vor einer erstarkenden Rechten in der Krise einen Befund, auf den der Politikwissenschaftler Philip Manow hinweist: Es gibt ein gesamtdeutsches (ökonomisches) Nord-Süd-Gefälle bezüglich der Zustimmung der AfD. Die Rechten sind gerade in prosperierenden Regionen stark, also dort, wo relative Deprivation - grob: das Gefühl, weniger als den gerechten Anteil zu erhalten, der einem zusteht - gering ausgeprägt ist. Nicht das Ruhrgebiet, nicht der strukturschwache Norden, das einst braune Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern sind Heartland der AfD, sondern das prosperierende Sachsen, das reiche Baden-Württemberg, an dortiger Spitze das schwer reiche Heilbronn.

Irrationale Ängste sind der Antrieb
Bisher hat die AfD nicht von der Coronakrise profitiert. Doch das muss nicht so bleiben, warnt Robert D. Meyer.

Es waren diese Regionen, in denen fernab ökonomischer Krise die AfD schon 2013 ihre mit Abstand besten Ergebnisse eingefahren hat. Jene AfD, die in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten wuchs, in Zeiten, in denen es nicht darum ging, Geld wegzunehmen, sondern anderen (»Südländern«, Geflüchteten) Hilfe vorzuenthalten. Dieses Bild aber würde sich in einer echten Wirtschaftskrise drehen - plötzlich würde nicht »Anderen« etwas vorenthalten, jeder noch so »Volks-Deutsche« könnte plötzlich selbst betroffen sein von der Krise. Die nur teilweise beruhigende Folge wäre, rechtes Denken verschwindet nicht, sondern parkt seine Wählerstimme bei den »etablierten« Parteien - bis die Krisen überwunden sind. Jetzt, in Krisenzeiten, ist das Zeitfenster offen, den Diskurs, die politische Kultur, die Institutionen des Rechtsstaates zu imprägnieren gegen den nächsten elektoralen Hochlauf rechter Aufwallung.

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