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«Menschenleben zählen hier nicht»

Chiles Bergleute müssen in der Coronakrise ohne Rücksicht auf Verluste weiter schuften, aber der Widerstand wächst

  • Malte Seiwerth, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 7 Min.

«Corona hat uns hart getroffen», erzählt Miguel Santana. «In den ersten Wochen zählten wir mehrere Tausend Entlassungen bei den Subunternehmen.» Santana ist Vizepräsident der Nationalen Konföderation der Kupferarbeiter, eine der größten Minengewerkschaften Chiles, die vor allem prekarisierte Arbeiter*innen der Subunternehmen organisiert. Denn die großen Kupferminen haben eine strenge Hierarchie. Während ein kleiner Teil bei dem eigentlichen Unternehmen fest angestellt ist, arbeitet ein Großteil für Subunternehmen. Dort sind niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen an der Tagesordnung.

Santana sitzt beim Skype-Gespräch im Zimmer seiner Tochter vor der Bildschirmkamera. Kinderzeichnungen schmücken die Wand hinter ihm. Er lebt am Fuß der Anden in der Kleinstadt San Felipe. Seit 2014 arbeitet er nicht mehr in einer Mine. Er ist zur unerwünschten Person geworden. Das Gesetz verbietet zwar die Entlassung von Gewerkschaftsfunktionären. Da genug Geld da ist, wird er einfach freigestellt. Er bekommt weiterhin seinen Lohn, darf aber nicht mehr auf das Minengelände. «Es ist für uns unvorstellbar, welche Geldmengen sich dort oben auf Konzernebene bewegen, für uns und das Land bleibt davon nur ein Bruchteil übrig.»

Während die Wirtschaft schwächelt, sind in den vergangenen Monaten die Kupfer- und Edelmetallpreise in die Höhe geschnellt. So hoch, dass Expert*innen von einer «Kupferblase» sprechen. Trotz Entlassungen geht die Produktion in der Mine in vollem Umfang weiter, von einer Verringerung der Abbaumenge keine Spur. Das hat fatale Folgen. «Unsere Mitglieder erzählen von nie endenden Schichten und hohem Druck», erzählt Santana. Er erwartet ein baldiges Heraufschnellen der Krankheitszahlen und Arbeitsunfälle. «So kann das nicht weitergehen.» Laut Santana haben die großen Minenunternehmen die Coronakrise genutzt, um Kosten zu senken. Löhne wurden gedrückt und Menschen entlassen, die Produktion aber wurde aufrechterhalten.

«Menschenleben sind hier oben egal»

«Die Minenunternehmen geben zwar vor, sich um unsere Gesundheit zu kümmern, aber das ist eine reine Farce», meint Santana. Zwar gibt es für die Festangestellten bessere Sicherheitsbedingungen, wie Abstand in der Kantine, aber für die Subunternehmen zählt das nicht. «Unsere Leute können erst nach den Festangestellten in die Kantine und müssen dann dicht aneinandergedrängt essen.» Santana: «Wir haben aufgehört, Ansteckungen und Tote zu zählen. Das Einzige, was geholfen hätte: Die Minentätigkeiten auf ein Minimum zu reduzieren.» Denn die Arbeit, weit entfernt von den Wohnorten, bringt Bus- und Flugzeugreisen mit sich und damit auch eine weitere Verbreitung des Virus. Santana hielte einen Produktionsstopp durchaus für machbar: «Die Unternehmen machen genug Gewinn, um für ein paar Monate durchzuhalten.» Doch es wird weitergearbeitet, und das hat Folgen: Während derzeit in Santiago die Infektionszahlen zurückgehen, schnellen sie im Norden, wo die meisten Minen sind, weiter nach oben.

Mitte Juni wurden die ersten toten Kumpel gezählt. Beim zweiten Fall betonte das betroffene staatliche Minenunternehmen, der gestorbene Kollege habe sich außerhalb der Mine angesteckt. «Als ob das eine gute Ausrede wäre», meint Santana wütend. Die neuen Corona-Toten verlängern eine lange Liste an Minenarbeiter*innen, die in den vergangenen Jahren bei der gefährlichen Arbeit umgekommen sind. «Als 2010 nach dem Grubenunglück von San José 33 Minenarbeiter gerettet wurden, kündigte Präsident Sebastian Piñera die Unterzeichnung internationaler Verträge zur Verbesserung der Sicherheitsbestimmungen in den Minen an.» Doch seitdem ist nichts passiert, auch nicht, nachdem Piñera 2018 zum zweiten Mal nach vierjähriger Pause wieder zum Präsidenten gewählt wurde. Santana schreibt seit 2010 den Tod von mindestens 170 Arbeiter*innen der Verantwortung der Regierung zu.

Minenarbeiter*innen, in ihrer Mehrheit Männer, verrichten eine harte Arbeit. Sie arbeiten meist über eine oder zwei Wochen am Stück weit oben in den Anden, entfernt von Freund*innen und Familie. Staub und Sand fliegt ihnen um die Ohren, während lauter Maschinenlärm das Sprechen unmöglich macht. Sie arbeiten in Zwölfstundenschichten und hausen in Sammelunterkünften. Alles ist auf die Lohnauszahlung am Ende des Monats ausgerichtet. Denn einen Grund hat die Arbeit: Kumpel verdienen rund drei Mal mehr als normale Arbeiter*innen in Chile.

Nicht überall sind die Entwicklungen so desaströs, wie von Santana geschildert. Ein ganz anderes Szenario erlebte Andrés Escobar, Gewerkschaftspräsident bei der Goldmine Guanaco. Er hat gerade seinen Heimaturlaub und wirkt deutlich stolz. Im Mai erlebte die Mine in ihrer zehnjährigen Geschichte den ersten Streik. Ein voller Erfolg. Nach einem knappen Monat waren die Kumpel in fast allen Punkten erfolgreich. Es ging dabei vor allem um bessere Sicherheitsstandards, um der Lungenkrankheit Silikose vorzubeugen. Doch nach dem Streik wurden 36 Gewerkschaftler entlassen, angeblich wegen der wirtschaftlichen Lage. Die Mine ist relativ klein, rund 1000 Arbeiter*innen sind hier beschäftigt, davon um die 250 gewerkschaftlich organisiert. Im Gegensatz zu den großen Minen konnte das Virus hier gut eingedämmt werden. «Heute haben wir seit mehreren Wochen keine neuen Fälle», erzählt Escobar.

Die Umwelt leidet

In einem Punkt stimmen beide Gewerkschafter überein: Die Pandemie hat die Schwächen des neoliberalen Staates mit aller Brutalität gezeigt. Vor der Krise gab es kaum staatliche Kontrollen, heute sind diese ganz verschwunden. Santana drückt es so aus: «Es ist schlimmer als schlecht.» Die Regierung nutze die aktuelle Lage, um den Unternehmen noch mehr Freiraum zu gewähren. Nicht nur durch fehlende Kontrollen, sondern auch durch neue Gesetze. So müssen bisher Minenunternehmen einen Fonds anlegen, um den Rückbau zu finanzieren, wenn das Lager erschöpft ist. «Vor Kurzem hat die Regierung vorgeschlagen, dass die Unternehmen einen Teil dieses Fonds nutzen dürfen, um die aktuelle Lage zu überbrücken. Aber bei den Minen gibt es keine Krise! Die Preise steigen und es kommen kaum höhere Kosten.»

Die Coronakrise hat auch Auswirkungen, die die Umweltorganisationen besorgt machen. Im Schatten der Pandemie wurde eine große Anzahl neuer Projekte bewilligt, die negative Auswirkungen auf die Umwelt haben. Darunter viele Minenprojekte, wie etwa Erweiterungen bisheriger Abbaugebiete oder neue Deponien für Abfälle. Normalerweise muss die ansässige Bevölkerung auf öffentlichen Sitzungen angehört werden, derzeit verläuft dieser Prozess online. «Die sowieso schwache Kontrolle ist heute quasi inexistent», meint Flavia Liberona von der Umweltorganisation Terram. «Minen sind verantwortlich für gewaltige Schäden an den Gletschern, diese sind extrem wichtig für die Wasserversorgung im regenarmen Sommer.» Hinzu kommt der Einsatz von Giftstoffen, diese geraten häufig in die Wasserläufe und so ins Trinkwasser. «Die geringere Durchflussmenge erhöht die Konzentration des Gifts im Fluss.» Terram engagiert sich seit Jahren für mehr Umweltschutz. «Leider sind diese Themen mit dem Coronavirus in den Hintergrund geraten», bedauert Liberona.

Die Revolte als Grund zur Hoffnung

Dass das Umweltbewusstsein bei den Arbeiter*innen inzwischen gewachsen ist, glaubt Andrés Escobar. Der erfolgreiche Streik habe den Arbeiter*innen gezeigt, dass sie gemeinsam stark sind. Und so kommt es, dass in jüngster Zeit einzelne Kolleg*innen sich wegen umweltschädlicher Praktiken an die Verwaltung wenden. «Wir haben eine Ermächtigung unter den Arbeiter*innen erlebt, dies zeigt sich auch in unserem Bewusstsein über Umweltschäden.» Heute sind es die Gewerkschaftsmitglieder, die häufig Umweltschäden der Unternehmen anzeigen, dies bestätigt auch Santana.

Die Revolte in vielen Städten des Landes ab dem 18. Oktober 2019 hat einiges geändert. Als Millionen von Menschen gegen das neoliberale Wirtschaftsregime auf die Straße gingen, fingen die Menschen in der Mine endlich an, über Politik zu reden. «Früher war es verpönt, beim Essen oder in der Pause über Politik zu reden, heute passiert das täglich», erzählt Escobar. Auch Santana ist voller Mut: Viele Gewerkschaften im Minensektor waren lange Zeit sehr gefällig gegenüber der Unternehmensleitung. Heute herrscht ein heftiger Kampf im Inneren der Föderationen, wobei der reaktionäre Teil an Macht verliert.«

Die chilenische Gesellschaft hat seit Oktober 2019 wieder angefangen zu träumen. In zwei Monaten wird über das Ziel einer neuen Verfassung abgestimmt. Eine Debatte über das zukünftige Chile bricht an. Santana meint, das Land solle seine natürlichen Ressourcen wieder verstaatlichen. »Ich bin ein Kritiker des Bergbaus, aber ich glaube, wir sollten ihn nutzen, um uns zu entwickeln. Danach können wir ihn beenden.«

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