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  • I’m thinking of ending things

Ein psychologischer Horrortrip

Über männliche Projektionen, Entfremdung und Beziehungsunfähigkeit: Charlie Kaufmanns Film »I’m thinking of ending things«

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

Er ist eine Ausnahmeerscheinung in der Filmbranche: Charlie Kaufman. Kaum ein Drehbuchautor hat eine so eingefleischte Fangemeinde wie der 1959 in New York geborene Autor und Regisseur. Bekannt wurde Kaufman vor 20 Jahren durch sein Skript für Spike Jonze »Being John Malkovich«, einem mitunter surrealistischen Film, in dem schließlich sogar jemand in den Kopf des berühmten Hollywoodschauspielers steigt. In Zusammenarbeit mit Regisseur Michel Gondry erhielt Kaufman 2004 dann für »Vergiss mein nicht« den Oscar für das beste Drehbuch. Die nicht linear erzählte Liebesgeschichte mit Kate Winslet und dem sonst als Komiker nervenden Jim Carrey, der als Charakterdarsteller in diesem fantastisch angehauchten New-York-Film verblüffend brillierte, begeisterte trotz seiner nicht einfachen Struktur ein breites Publikum.

Charlie Kaufmans eigene Regiearbeiten waren dagegen weit weniger erfolgreich. Der komplexe und nicht eben leicht zugängliche Film »Synecdoche New York« (2008) mit Philip Seymour Hoffman in der Hauptrolle über einen vor sich alternden Theaterregisseur, der über Jahrzehnte hinweg ein Stück inszeniert, begeisterte zwar den einen oder anderen Kritiker, floppte finanziell aber komplett. Nun bringt Netflix Kaufmans neuesten Film »I’m thinking of ending things« heraus, der an der Kinokasse wahrscheinlich leider auch wenig erfolgreich gewesen wäre.

Dabei ist die Literaturverfilmung von Iain Reids Psychodrama »The Ending« begnadetes Arthaus-Kino vom Feinsten. Es geht darin um Jake und seine namenlose Freundin, die mit dem Auto durch ein verschneites und düsteres Kanada fahren, um Jakes Eltern zu besuchen. Die junge Frau (gespielt von Jessie Buckley), deren Gedanken als Erzählstimme fungieren, will eigentlich die gerade mal sieben Wochen dauernde Beziehung zu Jake beenden, lässt sich aber dennoch mit einem eher mulmigen Gefühl auf den Besuch bei seinen Eltern ein. Der Titel gebende Satz »I’m thinking of ending things« wird zu einem regelrechten Mantra, das sie immer wieder während der langen Autofahrt gedanklich formuliert, während das dichte Schneegestöber um sie herum zunimmt. Angekommen bei Jakes Eltern, die in einem altbackenen Farmhaus leben, wird es immer bizarrer - und der Film zu einem surrealistischen Kammerspiel. Die Eltern sind mal jung und redegewandt, dann wieder uralt, der Vater leidet an Alzheimer, die Mutter liegt auch mal im Koma oder tänzelt plötzlich als junge Frau mit einem Wäschekorb unterm Arm durch das Haus. Tische werden wie von Zauberhand mit opulenten Speisen gedeckt und die Unterhaltungen drehen sich im Kreis. Unter anderem wird mehrmals über den Beruf von Jakes Freundin gesprochen, die einmal Kellnerin ist, dann Quantenphysikerin, Ärztin oder Kinokritikerin. Aber auch der Moment, wie sich das Paar kennenlernte, wird immer wieder neu und anders erzählt.

Charlie Kaufman hat die Romanvorlage Reids, in der es ursprünglich in einem bis zum Ende spannenden Verwirrspiel um Jakes Schizophrenie geht, deutlich bearbeitet und verändert. Die beängstigende Stimmung bei dem handlungstragenden Familienbesuch und ihre langsame Steigerung, fängt Kaufman aber auf sehr verstörende Weise ein. Auf der Rückfahrt hält das Paar dann mitten im immer stärker werdenden Schneesturm an einem Eisladen an und fährt dann noch bei Jakes ehemaliger Highschool vorbei, wo sie auf dem Parkplatz plötzlich den alten Hausmeister sehen, von dem Jake sich verfolgt fühlt. Er läuft ihm hinterher, lässt seine immer wütender werdende Freundin im Auto zurück bis diese sich irgendwann auch aufmacht, um verängstigt durch die nächtlichen Flure des verlassenen Schulgebäudes zu irren.

»I’m thinking of ending things« ist kein einfacher Film. Die Hälfte der gut zwei Stunden sitzen Jake und seine Freundin im Auto, diskutieren und streiten unter anderem heftig über David Foster Wallace, über feministische Aspekte in John Cassavetes Arthaus-Klassiker »The woman unter the Influence« und über Anna Kavans von Feministinnen jüngst wiederentdeckten surrealistischen Roman »Eis« (1967, kürzlich erstmals bei Diaphanes auf Deutsch erschienen). Neben diesen von den beiden kontrovers diskutierten avantgardistischen Meilensteinen der US-amerikanischen Gegenwartskultur, geht es aber auch immer wieder um Musicals, sogar einige Tanz- und Singszenen webt Kaufman in den aberwitzigen Plot ein. Irgendwann rezitiert Jakes Freundin im Auto ein mehrere Minuten dauerndes düsteres Gedicht, dessen Text sich später in einem Buch im ehemaligen Kinderzimmer des Farmhauses findet.

Kaufmans »I’m thinking of ending things« ist eine ausgeklügelte Erzählung über psychische Grenzsituationen, in denen es um männliche Projektionen, Entfremdung und Beziehungsunfähigkeit geht und die zeigen, welche eingeschliffenen Strategien Menschen besitzen, um dies zu kompensieren. Was könnte sich dafür besser eignen als ein beklemmender Besuch bei den Eltern des Freundes? Kaufman setzt diesen bedrückend in Szene und lässt ihn zu einem psychologischen Horrortrip werden. Das anfangs bilderbuchartige Pärchen geht im Zug der fortschreitenden Eskalation offener miteinander um und haut sich alles bisher Unterdrückte gegenseitig um die Ohren. Spätestens dann ist das im Titel angekündigte Beziehungsende nicht mehr weit.

»I’m thinking of ending things«, auf Netflix.

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