Prima in Paestum

Was war dein schönstes Ferienerlebnis? Der Besuch dreier Tempel in der Ebene von Kampanien – zusammen mit einem deutschen Schulkurs

  • Thomas Schaefer
  • Lesedauer: 4 Min.
»Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler, hier seht ihr ein Pferd«. – »Ja, genau.«
»Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler, hier seht ihr ein Pferd«. – »Ja, genau.«

Wanderer, kommst du nach Kampanien, dann versäume es nicht, Paestum zu besuchen: die drei griechischen Tempel mit ihren wuchtigen dorischen Säulen, die dort stoisch seit Ewigkeiten in der Ebene stehen und alles über sich ergehen lassen, auch dass man unweigerlich die Hand an sie legen muss. Dann wird auch im rationalsten Menschen eine Neigung zu mystischen Empfindungen aufkeimen angesichts der Energie, die sich aus dem uralten Stein zu übertragen scheint. In Italien werden entsprechend disponierte Zeitgenossen vermutlich keine Bäume umarmen, sondern Säulen.

Wenn man mit dem Handauflegen und Umarmen fertig ist, empfiehlt sich ein Besuch im kleinen archäologischen Museum von Paestum, und dort vor allem des berühmten »Tauchers«, dieser Grabplatte, die einen jungen Mann zeigt, der gerade von einem abstrakt gehaltenen Sprungturm in ein Gewässer hechtet. Links ein stilisiertes Bäumchen, in den Ecken sparsam gehaltene dekorative Elemente – sehr modern das Ganze, sehr rätselhaft und eigentlich auch ziemlich komisch, auf alle Fälle etwas Besonderes, das man sehr lange friedlich betrachten kann, wenn man mal allein ist in dem Raum, in dem der Taucher der Welt präsentiert wird.

Da kommt aber schon ein deutscher Schulkurs hereingeschlurft, schätzungsweise zwölfte Jahrgangsstufe. Die Lehrerin in beigefarbenes Leinen gewandet, eine dito farbige Strickweste, schwarze Hornbrille, weiß gefärbtes Haupthaar, so sieht das aus.

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»Wir sind jetzt in dem Raum mit dem berühmten Taucher«, sagt die Lehrerin, »und ihr habt zehn Minuten, euch alles gut anzuschauen. Vorher wird uns aber Leonie in ihrem Referat erklären, was es hier zu sehen gibt. Bitte, Leonie.« »Ja, genau«, hebt Leonie an, »das hier ist die Grabplatte mit dem berühmten Taucher. Genau. Man weiß aber nicht, was das bedeutet. Es gibt eine These, dass der Taucher den Übergang vom Leben in den Tod darstellt. Genau. Aber das weiß man nicht. Dann gibt es noch eine Grabplatte, die ein Gastmahl zeigt. Ja.«

»Das war’s, Leonie?«, fragt die Lehrerin. »Prima, danke für dein tolles Referat, mit dem du uns über alles Wissenswerte informiert hast. Hat trotzdem jemand noch was zu ergänzen?«

Ein Jüngling meldet sich: »Das sind lauter Männer da bei dem Gastmahl.«

»Sehr richtig«, bestätigt die Lehrerin. »Sehr gut beobachtet. Man muss dazu wissen, dass die alten Griechen körperliche Liebe nicht anrüchig fanden.« Anrüchig. »Schön. Wir gehen dann mal weiter in den nächsten Raum.«

»Eine Abhandlung über die Tempel erwarte nicht.«

Johann Gottfried Seume

Und sie gehen schön weiter. In den nächsten Raum, zum nächsten Ort. Zum Vesuv vielleicht, falls sie da nicht schon waren. Da hat womöglich Tim ein Fachreferat gehalten: »Der Vesuv ist ein Vulkan. Manchmal bricht er aus. Einmal hat er eine Stadt verwüstet, die hieß Pompeji.« Danke, Tim, für diesen Hammervortrag. Und in Pompeji spricht Sofie zu den Ihren: »Ja, also, wir sind hier in einer Stadt, die heißt Pompeji. Und die ist mal verschüttet worden vom Vesuv. Das ist ein Vulkan.« Super, Sofie, eins, setzen.

Und dann fliegen sie zurück nach Deutschland mit einem Sack guter Noten im Gepäck, und entsprechend überlegen fühlen sie sich, weil sie sich so 1a in der Welt auskennen und jetzt auch in diesem Italien da. Und die Lehrerin ist fix und fertig und muss sich erst mal erholen von der Studienfahrt und sich mit ihren Freundinnen treffen und ihnen erschöpfend erzählen, wie sie ihren Zöglingen die Kultur der Antike nahegebracht hat.

Goethe war in Paestum und hatte naturgemäß Anlass, elaboriert zu meckern (»dass uns diese stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen lästig, ja furchtbar erscheinen. Doch nahm ich mich bald zusammen, erinnerte mich der Kunstgeschichte, gedachte der Zeit, deren Geist solche Bauart gemäß fand«). Seume war in Paestum und auch nicht sonderlich inspiriert (»Eine Abhandlung über die Tempel erwarte nicht.«). Und jetzt also auch Leonie, die sich gut in die Ahnenreihe eingefügt hat (»Genau.«). Und die griechischen Tempel stehen da, und es geht ihnen alles an ihren dorischen Säulen vorbei. Es bleibt ihnen ja auch nichts anderes übrig.

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