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Du bist niemand

Niveau, das ist das Fromme: Botho Strauß’ gesammelte »kritische Prosa«

  • Stefan Gärtner
  • Lesedauer: 7 Min.

Im Sommer 2018 protestiert der junge iranische Ringer Navid Afkari in seiner Heimatstadt Schiras gegen Misswirtschaft und Korruption. Er wird verhaftet, gefoltert, muss im Staatsfernsehen gestehen, einen Sicherheitsmann getötet zu haben, und wird wenige Tage nach dem Todesurteil hingerichtet. Afkaris Angehörige erfahren davon aus dem Fernsehen.

Im Spätsommer 2020 kann, wer möchte, sich bei Botho Strauß über den sittlichen Vorteil der »Gehorsamen des Islam« informieren, die nämlich noch wissen, »was Überlieferung ist«: »Wir drängen den Gläubigen und Andersgläubigen neben uns unentwegt unsere Freiheiten auf, denken aber nicht daran, auch nur das Geringste von ihrer Freiheitsbeschränkung durch Ritus und Religion nachahmenswert zu finden oder auf uns abfärben zu lassen.« Könnte ja sein, der iranische Blutrichter wäre, gleich dem Schriftsteller Rudolf Borchardt, »einer der großen spirituellen Reaktionäre« und als solcher »ein unbeirrter Zeitfremdling, voll scharfsinniger Frommheit«. Wir werden es erleben, denn »im Zuge des Bevölkerungswandels« durch die »für die absehbare Zukunft prognostizierte muslimische Bevölkerungsmajorität von Amsterdam und anderen Metropolen« - heute spricht man von Bevölkerungsaustausch - »könnten sich andere Prioritäten herausbilden, als sie heute gültig sind«.

Es ist natürlich gemein, das hier so zu montieren; es ist aber auch sehr leicht. Denn die Essays aus vier Jahrzehnten, erschienen als »Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern«, lassen Strauß’ berüchtigten »Anschwellenden Bocksgesang« aus dem Jahr 1993 nicht eben wie ein polemisches Versehen wirken. Abgesehen davon, dass Strauß kein Polemiker und seine Prosa ganz Sorgfalt, ganz »Zucht« ist, hat er das alles so gemeint - von der »Volksgemeinschaft« bis hin zur Empörung über das liberale Unverständnis, »dass ein Volk«, sagen wir das iranische, »sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen«. Wenn »die Verhöhnung des Soldaten, die Verhöhnung von Kirche, Tradition und Autorität« andernorts gewisse Strafen nach sich ziehen, kann Strauß sich also gar nicht recht entscheiden, ob er die deutschen Intellektuellen nun dafür hassen soll, dass »sie grimmig sind gegen das Unsrige und begrüßen, was es zerstört«, oder ob er, 13 Jahre später, dem Islam nicht dafür dankbar sein will, dass er uns Zivilisationskrüppel »den Nicht-Zerfall, die Nicht-Gleich-Gültigkeit, die Regulierung der Worte« lehrt, mithin die sakral-demutsvolle Hinwendung zum »Ersten und Ganzen«. Wider Ironie, Kritik und Postmoderne soll das Eigentliche wieder her, von dem Adorno in seiner Jargonkritik fand, es sei die Rache des Mythos am Denken; und träumt Strauß von Otto Sander, rät der ihm, »auf ein Klopfen aus der Tiefe der Wiederkunft« zu warten.

Für die Tiefe der Klopfzeichen bürgt neben Heidegger, auf den Adorno damals zielte, die Reihe Hofmannsthal, George, Borchardt, Benn, Carl Schmitt und Ernst Jünger, und diese Tradition meint Strauß, wenn er sich als »traditionaler Rechter« bezeichnet, der sich vom Nazi so unterscheide wie der Fußballfan vom Hooligan. Was hier heilig ist, ist das Deutsche als zugleich gewesene und mögliche Sprache, sind Hölderlin und die »verborgene Sprachgemeinschaft«; ein geheimes Deutschland, das aufs Verborgene so angewiesen ist wie der Dichter selbst, der sich für den »letzten Deutschen« der literarischen Überlieferung hält, »und außerhalb existiere ich nicht. Sie besteht im Übrigen jenseits von Fürstenstaat, Nation, Reichsgründung, Weltkrieg und Vernichtungslager, nichts davon ist in ihr vorgegeben, wieder Heil noch Unheil trägt sie in sich, um es auszutragen. Dies wird ausschließlich von Geschichte veranlasst, niemals von Kunst und Literatur.« In diesem mehr oder minder totalen Ästhetizismus will Strauß Reaktionär sein, im Widerstand gegen den »Mythos der Jetztlebligkeit« und die kulturelle Katastrophe aus Kommunikation, Kritik und Kulturindustrie.

Kultur ist nämlich im klassischen Verstand »die substantielle Trennung der vielen oder Ausgeschlossenen von den wenigen Einbeschlossenen. Noch Borchardts Kritik an der Humboldtschen Bildungsreform betonte, es komme eben nicht darauf an, dass viele Griechisch lernen, sondern wenige. Die vielen verdünnen das Gut, jene wenigen aber erhalten es. Der ästhetische Urfehler rührt vom Plurimi-Faktor: die meisten zur obersten Interessensphäre zu machen. Das Breite zur Spitze zu erklären.« Statt wenigstens das Beste, das »Meistertum«, dem in Zucht sich zu fügen viel eher Erziehung sei als die vaterlose Pädagogik, der wir unsere Probleme mit den »von uns verwahrlosten Kindern« verdankten, die in Hoyerswerda und anderswo zwecks »Tabuzertrümmerung« Nichtdeutsche jagten.

Wessen es bedarf, ist ästhetisch-kulturelle Strenge als Gegenteil waltender Nivellierung und ihres im genauen Sinn hässlichen Triumphs. Die Masse ist nicht gemeint, wenn es bei Strauß um Freiheit geht, sondern der Einzelne, Auserwählte, dessen freie Entwicklung aber gerade nicht die Grundlage der freien Entwicklung aller ist. Deren Exklusion dient seiner Vergeistigung, die wiederum »dem Volk« nützlich wird. Zwischen »Fußvolk und Anführern« ist, dreht man den Vorwurf aus dem »Bocksgesang« um, von Neuem zu unterscheiden; später wird Strauß es noch einmal salbungsvoller sagen: »Die Frage des Niveaus wird in Zukunft wieder von der Begrenzung des Zugänglichen abhängen. Wir anderen müssen neue unzugängliche Gärten bauen!«

Dass hier kein Politiker spricht, dafür bürgen die alten, von der Abteilung Gartenbau nur zu gern aufgerufenen Dichotomien des romantisch Unpolitischen: Schöpfung versus Kritik, Form versus Impuls, Poesie versus Intellekt, Ursprung versus »Sich-Befinden«. Tatsächlich nirgends macht der Band, der Aufsätze zu Literatur, Kunst und Zeitgeschehen vereinigt und um erstveröffentlichte »Sprengsel« erweitert, die alte Einschätzung wertlos, der »Bocksgesang« sei ein (wenn nicht der) Initialtext der Neuen Rechten. Was deutsche Bildungsbürgerlich- und Kunstfrömmigkeit mit jenem Faschismus zu tun hat, von dem sie doch gar nicht wissen, was er sei, entbirgt das Buch so gut, wie es den Zeitfremdling und Außenseiter als neuen Mainstream vorführt: »Keiner sagt etwas, das nicht ebenso alle sagen könnten«, lautet einer der frischen Einträge. »Schaden nimmt dabei die Begabung, dagegen zu sein.« Und darum sagen es alle, von Thea Dorn über Tichy bis zum liberalen »Zeit«-Journalisten Ijoma Mangold, in dessen »politischem Tagebuch« (»Der innere Stammtisch«) sich das öde Geschimpfe auf die politische Korrektheit als jener »bürgerliche Fundamentalismus« erweist, der bei Strauß Reaktion bedeutet. »Toleranz und Diversität«, lautet die vielfach variierte Überzeugung, »werden verordnet wie vormals die patriotische Gesinnung«, was eingedenk der oben zitierten Klage vermuten lässt, hier werde nicht das Verordnen beklagt, sondern sein Inhalt. »Das Gleiche und das Gleichen steht überall wie auf Bannern gegen die natürliche Anlage der Diskriminierung, die das Kind noch besitzt und die erst in ungeordnet-rangloser Gesellschaft schwer beherrschbar wird.«

Die Idee strenger Meritokratie als Wille und Fähigkeit, »ein Verhältnis zu eines anderen Vorrang einzugehen«, hat Strauß vom Theater; und was als Verneigung vor Jutta Lampe stimmen mag: »Du bist niemand, sonst wärst du keine große Schauspielerin«, wird heikel, wenn in politicis vom Volk die Rede ist. Solange an der privilegsbewirtschaftenden Klassenherrschaft nicht gerüttelt werden soll, bleibt Meritokratie, wie sie Strauß, »feind der Total-Demokratie«, der Gesellschaft nahelegt, chimärisch, ja Lüge und ist das Gegenteil von ungeordnet und ranglos. Der faschistische Ständestaat ist es, den konterrevolutionärer Geistesadel insinuiert, und sei’s bei der Lektüre Stifters (»die tiefe Entrückung ins Geordnete«). Stimmt es, dass unser »kritisch-soziales Zeitalter« per Moraldiktat den Gesellschaftszerfall betreibe, kommt Gesellschaft (als Gemeinschaft) nicht im frenetischen In-, sondern im ausdrücklichen Exkludieren zu sich - umso alberner der Vorwurf, die Korrektheit wirke »ausgrenzend« -, und der Sündenbock, wie es im »Bocksgesang« heißt, ist »niemals lediglich ein Objekt des Hasses, sondern ebenso ein Geschöpf der Verehrung: Er sammelt den einmütigen Hass aller in sich auf, um die Gemeinschaft davon zu befreien.«

Eine von Strauß’ Lieblingsvokabeln ist »Sezession«, und vielleicht ist es doch mehr als Zufall, dass Götz Kubitscheks Edelnazizeitschrift so heißt. Denn besteht der Fan auch drauf, kein Hooligan zu sein: Ins Stadion gehen beide.

Botho Strauß: Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern. Kritische Prosa. Rowohlt, 400 S., geb., 26 €.

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