Helden unter der Glocke

Heimbewohner und Pädagogen haben es während Corona nicht leicht. Ein Besuch im thüringischen Kinder- und Jugenddorf Regenbogen

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 8 Min.

Jetzt, inmitten der Pandemie, deutet in diesem Konferenzraum nichts mehr darauf hin, dass hier vor gar nicht allzu langer Zeit unterrichtet wurde. Dass das eine Dorfschule war. Anders als damals, am Anfang der Pandemie, steht nun wieder ein großer, ovaler Tisch in dem Zimmer, der aus vielen kleinen Tischen besteht. Noch vor ein paar Monaten waren diese einzelnen Tische im ganzen Raum verteilt gewesen, weil mehr als ein Dutzend Schüler ganz unterschiedlicher Jahrgänge hier gelernt hatte und ganz unterschiedliche Schulaufgaben lösen mussten. Das Bild, das sich einem Betrachter in diesem Raum bot, spiegelte die ganze Vielfalt; die ganze Komplexität wieder, die in einem Kinderheim wie diesem hier in Zella-Mehlis Alltag ist.

Freitag der 13.

Dass sich dieser Alltag im März und April für manche der Kinder hier nicht nur, aber vor allem auch in diesem Raum abspielte, hat mit dem einen Tag im März zu tun, von dem Michael Feistkorn sagt, er erinnere sich noch heute sehr gut daran. Was wohl auch den Rest seines Lebens so bleiben wird. »Das war Freitag, der 13. März.« Feistkorn ist der Chef des Kinderheimes, das »Kinder- und Jugenddorf Regenbogen« heißt. Formal korrekt ist er Geschäftsführer des Trägervereins der Einrichtung, der sie selbst nicht Kinderheim nennt. Auch wenn die Bezeichnung in der Öffentlichkeit nach wie vor geläufig ist.

Feistkorn ist freilich nicht der einzige, der sich an diesen Tag noch gut erinnert: Jener Freitag vor ziemlich genau einem halben Jahr, als in Thüringen und praktisch bundesweit beschlossen wurde, wegen der Corona-Pandemie die Kindergärten und Schulen zu schließen. Für Tausende und Abertausende Familien bedeutete diese Entscheidung einen massiven Einschnitt in ihren Alltag. Das Leben, so wie sie es kannten, änderte sich von jetzt auf gleich. Grundlegend.

Und bei denen, die nicht in ihrer Familie - jedenfalls nicht in einer Familie im klassischen Sinn des Wortes - lebten? Wie etwa die Kinder und Jugendlichen in den Kinderheimen, von denen es alleine in Thüringen nach Angaben des Bildungsministeriums immerhin 175 gibt. Betrieben werden sie von Organisationen wie der Arbeiterwohlfahrt oder der Caritas, manche von Kommunen und einige eben von einzelnen privaten Trägern.

Nach Angaben des Thüringer Bildungsministeriums gibt es eine Vielzahl von Gründen, aus denen Kinder und Jugendliche von ihren Eltern getrennt in Heimen aufwachsen: Zu den Hauptgründen gehören demnach überforderte Eltern. Aber auch, wenn wichtige Bezugspersonen der jungen Menschen krank werden oder sterben oder aber sie Gewalt in der Familie erleben, sind sie bisweilen im Heim besser als anderswo aufgehoben. Kinder und Jugendliche kommen zudem immer wieder dann in Heime, wenn sie zum Beispiel einen Entwicklungsrückstand aufweisen oder belastet werden, weil ihre Eltern etwa suchtkrank oder psychisch krank sind.

Ähnliche Erfahrungen

Zunächst waren dann die Einschränkungen für die Kinder in den Heimen und die dort arbeitenden Pädagogen durch den sogenannten Lockdown vom März und April durchaus vergleichbar mit jenen, denen sich auch die klassischen Familien gegenüber gesehen hatten. Ein Stück weit ist das auch nicht überraschend, weil es der Anspruch von Feistkorn und seinen Mitarbeitern im »Kinder- und Jugenddorf Regenbogen« ist, den jungen Menschen dort ein möglichst familiäres Umfeld zu bieten. »Jede Wohngruppe ist wie eine große Familie«, sagt Feistkorn. Insgesamt sechs Wohngruppen gibt es in der Einrichtung plus Platz für Kinder, die in Krisensituationen in Obhut genommen werden müssen; etwa, weil ihnen zu Hause Gewalt droht.

Das zentrale Problem, erzählen Feistkorn und Kollegin Annett Zimmermann, federführend mitverantwortlich für die Wohngruppen im Dorf, sei es deshalb gewesen, die Heranwachsenden den ganzen Tag über zu beschäftigen. Etwa 65 Kinder und Jugendliche lebten immerhin zum damaligen Zeitpunkt in der Einrichtung. Doch wohin hätten sie auch gehen sollen? Kindergärten, Schulen und Vereine waren dicht. Dieses Problem sei beachtlich gewesen, weil für gewöhnlich die Pädagogen der Einrichtung tagsüber nicht im Dienst sind, wenn ihre Schützlinge im Kindergarten oder in der Schule verweilen, sagt Zimmermann. Nun aber mussten die Kinder rund um die Uhr betreut werden. Dies, sagt Feistkorn, sei überhaupt nur möglich gewesen, weil Mitarbeiter aus anderen Einrichtungen des Vereins - etwa aus den Kindergärten, die das Projekt auch betreibt - das Heim unterstützt hätten.

Basteln, singen, lernen

Also wurde mit den Kindergartenkindern gebastelt und gesungen. Etwa 15 Schulkinder lernten unterdessen in dem umgeräumten Konferenzsaal - der Dorfschule -, beaufsichtigt von zwei bis drei Pädagogen. Viele andere Kinder arbeiteten in ihren Wohngruppen. Etwa die Hälfte der jungen Menschen war schulpflichtig. Das Ergebnis: Gemessen an den widrigen Umständen der Coronakrise hat es erstaunlich gut funktioniert, finden Feistkorn und Zimmermann. Zwei Faktoren haben dazu ganz wesentlich beigetragen: Weil das Gelände des Heims groß ist und weil es dort unter anderem Sport- und Spielplätze gibt, fühlten sich die jungen Menschen nicht total eingeengt. »Man kann den Tag hier schon rumkriegen«, sagt Feistkorn.

Organisatorisch war noch wichtiger, dass das gesamte Kinder- und Jugenddorf in dieser Zeit als ein einziger, großer Haushalt galt. Alle Kinder, Jugendlichen und Betreuer durften untereinander Kontakt haben, während sich die Einrichtung nach außen hin fast völlig abschottete. Außer den Pädagogen, sagt Feistkorn, habe praktisch niemand das Heim betreten oder verlassen. Selbst die Kontakte zu den Lieferanten habe man maximal eingeschränkt. »Wir haben hier wie unter einer Glocke gelebt.«

Unter sich

Dass dieses Leben unter einer Glocke auch bedeutet hat, dass die betreuten Kinder- und Jugendlichen während des Lockdowns keinerlei persönlichen Kontakt zu ihren Eltern oder anderen Familienangehörigen haben durften, sei das vielleicht größte Problem dieser Corona-Phase gewesen, sagt Zimmermann. Telefonanrufe und Briefe hätten den Kontakt von Angesicht zu Angesicht nicht ersetzen können, sagt sie. »Die Kinder haben schon viel darüber gesprochen, dass sie ihre Eltern oder Großeltern vermissen, manche haben auch viel geweint.« Die Arbeit der Betreuer hat das nur noch schwieriger gemacht. Und gleichzeitig noch wertvoller.

Das Engagement dieser Pädagogen wie auch der anderen Mitarbeiter von Kinderheimen im Land in diesen Wochen würdigt auch das Thüringer Bildungsministerium ausdrücklich. Man hatte sich dort in den vergangenen Monaten öffentlich vor allem um Kindergärten und Schulen gekümmert. Während des Lockdowns hätten Kinder, Jugendliche und die Mitarbeiter der Heime in einer Art »Schicksalsgemeinschaft« rund um die Uhr zusammengelebt, heißt es aus dem Ministerium. »Vieles ist mit viel Engagement und Herzblut hervorragend gelungen.«

Landes-Bildungsminister Helmut Holter (Linke) lobt sogar, in der Coronakrise habe sich gezeigt, dass neben Pflegekräften, Krankenschwestern und Ärzten beispielsweise auch die Fachkräfte in der Jugendhilfe »Heldinnen und Helden des Alltags« gewesen seien. Diese hätten »aufopferungsvolle Arbeit in der Pandemie geleistet, um für ihre Schützlinge, die noch mehr als sonst auf sie angewiesen waren, da zu sein«.

Holter verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Erzieherinnen und Erzieher des Kinderheims in Neustadt am Rennsteig. Auch sie würden beispielhaft dafür stehen, was diese Berufsgruppe unmittelbar nach Ausbruch des Coronavirus in Deutschland geleistet habe. Als der gesamte Ort pandemiebedingt unter Quarantäne gestanden habe, seien sie »bei den Kindern und Jugendlichen praktisch mit eingezogen«, sagt Holter. »Das hat jede Anerkennung verdient.«

Andere Erfahrungen

So vergleichbar mit dem alltäglichen Leben ungezählter Familien das ist, was sich in der ersten Phase der Pandemie in vielen Kinderheimen abgespielt hat, so sehr unterscheidet sich dann aber doch das, was in den Folgemonaten geschehen ist. Denn während das Leben in klassischen Familien durch die schrittweise Rückkehr zur Normalität nach und nach wieder deutlich leichter geworden ist, ist das Leben zum Beispiel im »Kinder- und Jugenddorf Regenbogen« dadurch deutlich schwieriger geworden. Ab Mai - also nach dem Ende des Lockdowns -, sagt Feistkorn, hätten sich die Herausforderungen des Alltages dort tatsächlich noch einmal verstärkt. »Die Organisation unseres Alltags war ab da extrem kompliziert«, so Feistkorn.

Der zentrale Grund dafür: In dem Moment, in dem etwa die Schüler wieder in die Schulen gingen, galt plötzlich nicht mehr das gesamte Dorf als ein Haushalt, sondern jede der Wohngruppen stellte einen eigenen Haushalt dar - während gleichzeitig das Risiko deutlich stieg, dass ein Kind das Coronavirus etwa aus der Schule mit ins Heim bringen könnte. Feistkorn fasst das in diesem Satz zusammen, der wie der Blick in die Dorfschule vor sechs Monaten beschreibt, was für ein komplexes System ein Kinderheim ist: »Je offener die Gesellschaft wieder wurde, desto rigider mussten wir hier also werden.«

Abstruse Folgen

Das hatte nach Angaben von Zimmermann bisweilen abstruse Folgen. In den Schulen, sagt sie, würden die Kinder und Jugendlichen regelmäßig mit ungefähr 20 anderen jungen Menschen in einem Raum sitzen. Teilweise würden dort Kinder oder Jugendliche aus dem Dorf mit anderen Heranwachsenden aus dem Heim in die gleichen Klassen gehen. »Aber weil sie zu unterschiedlichen Wohngruppen gehören, dürfen sie dann auf unserem Gelände keinen Kontakt zu einander haben.« Alles, um zu verhindern, dass das Corona-Virus in der Einrichtung um sich greift. Denn, sagt Feistkorn, eines dürfe auf gar keinen Fall passieren: Dass das gesamte Kinder- und Jugenddorf in Quarantäne geschickt wird.

Bis heute ist dieser Extremfall verhindert worden. Was auch ein Ausdruck der Disziplin ist, die die Kinder, Jugendlichen und auch die Beschäftigten in der Krise bisher bewiesen haben.

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