Strategin von der Straße

Eine war’s Nr. 266 von Lotte Laloire

  • Lotte Laloire
  • Lesedauer: 3 Min.

Wir brauchen die Männer! Diese Feministin fand, im Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung sollten Mann und Frau »Kameraden« sein. Zugleich war ihr klar: Die proletarische Frau ist eine »Sklavin von Sklaven«. Durch Kapital und Patriarchat ist sie »doppelt geknechtet«. Deshalb braucht es auch Strukturen ohne Männer. Ein Widerspruch? Keineswegs, die Frau dachte dialektisch. Sie wusste schon vor 100 Jahren, was manche Marxisten bis heute nicht verstehen: dass verschiedene Formen der Unterdrückung gleichzeitig bekämpft werden müssen. Mittlerweile nennt man das »intersektional«, ignoriert dabei aber meistens die Klassenfrage und verbleibt im universitären Elfenbeinturm.

Ganz anders diese Strategin von der Straße. Sie wurde 1877 in einem Dorf im ukrainischen Dnepr-Hochland geboren. Ihre Familie war sehr religiös. Wie viele Jüdinnen und Juden musste sie 1894 aufgrund antisemitischer Angriffe fliehen. In London schloss sie sich der jüdisch-anarchistischen Bewegung an, schrieb für Zeitschriften wie »Zsherminal« oder »Der Arbeyter Fraynd« und organisierte Streiks oder Demonstrationen osteuropäischer Proletarier*innen. Politisch aktiv war sie schon, bevor sie ihren Ehemann, einen aus Deutschland geflüchteten Aktivisten, kennenlernte. Bei der Hochzeit entschied sie sich für einen Doppelnamen, statt ihren eigenen aufzugeben.

In ihrem neuen Zuhause waren die beiden weiterhin Repression ausgesetzt. Nachdem sie sich gegen den Eintritt Großbritanniens in den Ersten Weltkrieg aussprach, wurde sie 1916 für zwei Jahre inhaftiert. Danach zog das Paar nach Berlin. Dort verbrachte es seine wohl wichtigste Schaffensphase und beteiligte sich am Aufbau der 1919 gegründeten Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD). Zu ihrer Hochphase vereinte diese 150 000 vor allem männliche Arbeiter. Doch damit nicht genug. 1921 gründete die Vorkämpferin den Syndikalistischen Frauenbund innerhalb der FAUD. »Wir sind der Ansicht, dass es den Prinzipien des Föderalismus entspricht, Frauenbünde zu haben. Genau so, wie jede Berufsgruppe ihre eigene Gewerkschaft besitzt, so besteht auf der anderen Seite für den Beruf der Hausfrau noch keine Gewerkschaft, also muss sie sich eine solche schaffen, und wir nehmen das Recht dafür voll und ganz in Anspruch.«

Diese »Frauengewerkschaft« veranstaltete Flickabende, Sexualaufklärung, Rhetorikkurse, Tauschbörsen, Frauenchöre oder Ausflüge in die Natur. Zum anderen forderte sie die Männer auf, Frauen beim Heraustreten aus ihren traditionellen Rollen zu unterstützen und Solidarität im Alltag zu üben. Zu diesem Zweck verlangten die Frauen eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit in den Fabriken. Dass für sie Produktion und Konsumtion untrennbar miteinander verbunden waren, spiegelt sich auch in den Kampfmitteln wider, die die Gesuchte propagierte: Analog zum Streik schlug sie Warenboykotts vor.

Letztlich scheiterte die bemerkenswerte Aktivistin aber auch an ihren eigenen Genossen. Diese waren nicht bereit, ihre Debatten stärker an den Interessen der Frauen auszurichten, patriarchale Rollenmuster zu überwinden sowie Klasse und Geschlecht zusammen zu analysieren. Die mühsam begeisterten Frauen verließen die FAUD nach und nach wieder. Kurz darauf brannte der Reichstag und die jüdische Anarchistin floh in die USA; anders als viele ihrer Genossinnen konnte sie dem Nationalsozialismus entkommen.

Wer war’s?

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