Polizeieinsatz mit Spätfolgen

Vor zehn Jahren wurden zahlreiche Gegner des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 durch Staatsbedienstete schwer verletzt

  • Martin Oversohl, Stuttgart
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Foto, das ihn vor genau zehn Jahren schlagartig weltweit bekannt machte, hat Dietrich Wagner nie deutlich gesehen. Er hat an jenem Tag, an dem es aufgenommen wurde, am Tag der Auflehnung gegen das Bauprojekt Stuttgart 21, sein Augenlicht fast völlig verloren. Der heute 75-Jährige wird trotzdem auch an diesem Mittwochabend gegen den Bau des Tiefbahnhofs protestieren.

Die Szenen des 30. September 2010 haben die jüngere Stadtgeschichte Stuttgarts geprägt. Sie haben Untersuchungsausschüsse nach sich gezogen und Prozesse, eine Schlichtung, Entschädigungen und Rücktritte. Und dennoch wird genau dort, wo vor zehn Jahren die Wasserwerfer standen, wo mehr als 160 Menschen verletzt wurden, weiter gebaut. In fünf Jahren soll der Tiefbahnhof eröffnet werden - trotz des »Schwarzen Donnerstags«.

Ein Rückblick: Im Sommer 2010 gehen immer wieder Zehntausende Stuttgart-21-Gegner auf die Straße. Ganz Deutschland blickt auf die Schwabenmetropole und die in den Medien vielfach als »Wutbürger« Diffamierten, die mit vielen ökonomischen und ökologischen Argumenten gegen das milliardenschwere Projekt protestieren. Am sogenannten Schwarzen Donnerstag eskaliert der Konflikt. Polizisten traktieren Demonstranten mit Schlagstöcken und Pfefferspray. Mit Wasserwerfern wird auf Menschen geschossen. Bei der Räumung des Schlossgartens neben dem Hauptbahnhof werden zahlreiche Menschen verletzt, darunter Wagner. Das Bild, das ihn mit blutigen Augen zeigt, geht um die Welt.

Der »Schwarze Donnerstag« war der Höhepunkt des Konflikts um den mittlerweile mehr als acht Milliarden Euro teuren Neubau des Bahnknotens Stuttgart. Für viele der damals Betroffenen war die Eskalation Startschuss für lang andauerndes Engagement. Für andere war es das Ende: »Da wurden normale und friedliche Bürger, die sich das erste Mal auflehnten, einfach weggeprügelt«, erinnert sich Matthias von Herrmann, Sprecher der Initiative Parkschützer. »Das hat viele von ihnen traumatisiert.«

Im Herbst 2010 folgte die vom ehemaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler moderierte Schlichtung. Mit deren Ergebnis hadern die S-21-Kritiker noch heute. Zugleich folgte der Zäsur des »Schwarzen Donnerstags« der historische Wahlsieg der Grünen unter Winfried Kretschmann im März 2011 nach mehr als 50 Jahren CDU-Vorherrschaft. »Damals, bei den Wasserwerfern, war mir bereits klar, dass die Landesregierung mit diesen Bildern nicht durchkommt, dass dieser Tag massive Folgen haben wird«, sagt Parkschützer von Herrmann.

Und auch juristisch bekamen die S-21-Gegner recht: Der Polizeieinsatz führte zu Untersuchungsausschüssen im Landtag und beschäftigte Gerichte. Im November 2015 erklärte das Verwaltungsgericht Stuttgart das Vorgehen der Polizei für rechtswidrig. Beim Protest gegen die Baumrodungen im Schlossgarten habe es sich um eine vom Grundgesetz geschützte Versammlung gehandelt. Die Polizei habe »mit Kanonen auf Spatzen geschossen«. Daraufhin entschuldigte sich Kretschmann bei den Opfern, von denen einige, unter ihnen Dietrich Wagner, Entschädigungen zugesprochen bekamen.

Dem »Schwarzen Donnerstag« folgte aber auch eine große Niederlage für die S-21-Gegner: Bei der von ihnen durchgesetzten Volksabstimmung sprach sich eine deutliche Mehrheit der Baden-Württemberger für den Weiterbau aus. Einige Unentwegte streiten bis heute gegen den Tiefbahnhof. Doch während 2010 Tausende jede Woche dagegen auf die Straße gingen, so sind es heute nur noch einige Dutzend. Auch an diesem Mittwoch, zum zehnten Jahrestag, werden sie zusammenkommen. Unter ihnen auch Dietrich Wagner. dpa/nd

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