Die Europäische Union bleibt uneins

Streit um Rechtsstaatlichkeit geht in nächste Runde

  • Peter Eßer, Brüssel
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Streit um die Rechtsstaatlichkeit in einigen EU-Ländern, allen voran in Ungarn, droht das am Donnerstag beginnende EU-Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel zu überschatten. Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Kollegen hatten das Thema beim Marathongipfel zum EU-Haushalt im Juli zuletzt mit einem Formelkompromiss aufgeschoben. In den vergangenen Tagen war die Debatte aber erneut voll entbrannt - Drohungen und Rücktrittsforderungen inklusive.

Bei einem Treffen von Vertretern der 27 EU-Staaten stimmte am Mittwoch in Brüssel eine Mehrheit für den Vorschlag der deutschen Ratspräsidentschaft zur Kürzung von EU-Gelder bei Rechtsstaatsverstößen. Die Möglichkeit ihrer Streichung beschränkt sich jetzt allerdings im Wesentlichen auf Fälle von Korruption, und die Hürde für Sanktionsentscheidungen, eine qualifizierte Mehrheit, liegt höher als zuletzt vorgesehen. Nötig wären damit die Stimmen von 15 Mitgliedstaaten, die für 65 Prozent der EU-Bevölkerung stehen. Neben Ungarn und Polen als den wahrscheinlichsten Kandidaten für solche Strafen stimmten auch Belgien, Dänemark, Finnland, die Niederlande und Schweden dagegen, denen die deutsche Linie zu weich ist.

Im Kern geht es um die Frage, ob und wie die Auszahlung von EU-Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft werden soll. Die EU-Kommission hatte einen solchen Mechanismus vorgeschlagen, nachdem jahrelange Verfahren gegen Polen und Ungarn weitgehend wirkungslos blieben. Brüssel wirft den Regierungen der beiden Länder unter anderem vor, mit Justizreformen die Gewaltenteilung zu gefährden, Medien und zivilgesellschaftliche Akteure zu drangsalieren und Minderheiten zu diskriminieren.

Polen und Ungarn, aber auch andere Mitgliedstaaten, die erhebliche Subventionen aus Brüssel erhalten, fürchten wegen des anvisierten Rechtsstaatsmechanismus um ihre Pfründe. Beim Gipfeltreffen im Juli drohten sie deshalb, das milliardenschwere Finanzpaket zu blockieren, mit dem die EU die europäische Wirtschaft durch die Coronakrise bringen will. Am Ende blieb vom ursprünglichen Rechtsstaatsplan der Kommission nur eine vage Formulierung übrig, verbunden mit dem Aufruf an die EU-Ratspräsidentschaft, die derzeit Deutschland innehat, einen neuen, konkreten Vorschlag zu erarbeiten.

Dem kam die Bundesregierung nun nach - und machte den Rechtsstaatssündern weitere Zugeständnisse. Kürzungen von EU-Mitteln soll es laut dem deutschen Vorschlag nur geben, wenn die finanziellen Interessen der EU in einem Mitgliedsland »in ausreichend direkter Weise« beeinträchtigt werden. Auch ist vorgesehen, dass von Kürzungen bedrohte Länder Einspruch erheben können. Das Thema müsste dann im Kreis der Staats- und Regierungschefs noch einmal diskutiert werden, bevor die Auszahlung von EU-Mitteln tatsächlich gestoppt würde.

Eine Gruppe um die nördlichen EU-Länder kritisierte, Berlin sei vor Ungarn und Polen eingeknickt. Letztere lehnten den deutschen Vorschlag aber ebenfalls ab. Aus Budapest hieß es zudem, die nördlichen Länder und besonders die Niederlande würden die Debatte um den Rechtsstaatsmechanismus nur als Vorwand nutzen, um das ihnen unliebsame Corona-Hilfspaket zu sabotieren. »Wir haben es mit einer sehr polarisierten Debatte zu tun. An beiden Enden des Spektrums gibt es Unzufriedenheit und Kritik«, resümierte ein Sprecher der deutschen Ratspräsidentschaft.

Die Billigung des deutschen Vorschlags war eine Voraussetzung dafür, dass auch die Verhandlungen über den Haushalt und die Coronahilfen mit dem EU-Parlament zum Abschluss gebracht werden können. Diese gestalten sich ebenfalls schwierig, weil die Abgeordneten mehr Geld für bestimmte EU-Programme fordern. Auch in Sachen Rechtsstaat vertritt das Parlament mehrheitlich eine harte Linie gegenüber Warschau und Budapest.

Zusätzlich befeuert wurde der Streit durch Äußerungen von der für Rechtsstaatlichkeit zuständigen EU-Vizepräsidentin Vera Jourová. Sie warf Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán in einem Interview mit dem »Spiegel« massive Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit und der Medienfreiheit vor. Er baue eine »kranke« Demokratie auf, sagte die Tschechin. Orbán schoss zurück und forderte in einem Schreiben an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Jourovás Rücktritt. Sie habe ihre Kompetenzen überschritten und das ungarische Volk beleidigt. Seine Regierung werde bis auf Weiteres nicht mehr mit der Vizechefin der Kommission kooperieren.

Unterstützung erhielt Jourová unter anderem von der Bundesregierung. Die EU brauche ihren »unparteiischen und klaren Verstand«, lobte der deutsche Europa-Staatssekretär Michael Roth (SPD). Auch aus dem EU-Parlament kamen fraktionsübergreifend Solidaritätsbekundungen. »Gute Nachricht: Orbán wird nervös«, freute sich der niederländische Grüne Bas Eickhout.

Kommissionschefin von der Leyen ließ über eine Sprecherin mitteilen, Jourová habe ihr »volles Vertrauen«. Außerdem zog die Kommission die Veröffentlichung ihres Jahresberichts zur Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten auf Mittwoch vor - angeblich unabhängig vom Streit um Jourovás Äußerungen. Die Brüsseler Behörde hat erstmals systematisch die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze in allen 27 EU-Staaten analysiert. Ungarn fällt in diesem sogenannten Rechtsstaats-TÜV durch. Kritisiert werden die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz und der unzureichende Kampf gegen Korruption und Lobbyismus. Nicht der Regierung nahe stehende Medien würden systematisch behindert und eingeschüchtert, Orbán-kritische Teile der Zivilgesellschaft stünden unter Druck. Der Bericht unterstreicht im Wesentlichen die Anschuldigungen der Kommissionsvize und wiederholt die Forderungen der Behörde nach mehr Möglichkeiten, insbesondere finanzieller Art, um auf Missstände in den Mitgliedstaaten wirksam reagieren zu können. Justiz, Korruptionsbekämpfung und Pressefreiheit in der Bundesrepublik bekommen insgesamt gute Noten, deutlich kritisiert wird die fehlende Transparenz von Lobby-Aktivitäten.

Beim Sondergipfel werden die Staats- und Regierungschefs nun nicht umhinkommen, sich des Streitthemas Rechtsstaatlichkeit erneut anzunehmen. Krach ist vorprogrammiert. Dabei sollte es eigentlich um Außenpolitik gehen. Belarus, die Türkei, Brexit und zuletzt auch noch der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien - an Baustellen mangelt es in diesem Bereich ebenfalls nicht.

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