»Wir waren nicht besser, aber stärker im Kopf«

Vor 50 Jahren gewannen die DDR-Volleyballer den einzigen deutschen WM-Titel unterm Hallendach. Von Jürgen Holz

Der Leipziger Rudi Schumann erinnert sich gut an den Höhepunkt seiner Karriere: »Das Erlebnis ist lebendig geblieben, nicht mehr so emotional wie im Moment des Erfolgs. Doch auch mit dem Abstand von 50 Jahren sucht man immer noch nach einer rationalen Erklärung für diesen nicht zu erklärenden Spielverlauf.« Schumann war 1970 der Star der DDR-Volleyballer, wurde später Hochschullehrer an der DHfK in Leipzig; heute ist der 73-Jährige Rentner. Den Fünf-Satz-Krimi von Sofia hat er in all der Zeit nie vergessen, denn so etwas erlebte er nie wieder.

Im letzten Spiel der acht Mannschaften umfassenden WM-Finalrunde entrissen die DDR-Männer den von 6000 Heimfans angefeuerten Bulgaren mit einem 3:2-Sieg noch den sicher geglaubten Weltmeistertitel. Nach 15:11, 13:15, 15:7 und 4:15 lag die DDR-Mannschaft im entscheidenden Satz schier aussichtslos mit 5:13 zurück. Zwei Punkte, die nach den damals geltenden Regeln nur bei eigenem Aufschlag erzielt werden konnten, fehlten den Bulgaren.

Rudi Schumann, mit 23 damals der Drittjüngste im DDR-Team und später als bester Spieler der WM geehrt, erzählt im nd-Gespräch, dass »beide Mannschaften am physischen Limit spielten. Besser oder schlechter waren keine Kategorien mehr.« Schon mit Beginn des vierten Satzes habe sich alles nur noch im Kopf der Akteure abgespielt. Nach dem verlorenen Satz seien er und seine Mitspieler frustriert über die vertane Chance so dicht vorm Titel gewesen. Beim Stand von 5:13 im letzten Satz nahm Trainer Herbert Jenter eine Auszeit und mahnte: »Jungs, reißt euch noch mal zusammen - wenn wir schon verlieren, dann mit Anstand«, soll er Schumann zufolge gesagt haben. »Ehrlich gesagt, an den Sieg glaubte aber keiner mehr«, meint Schumann heute.

Doch das Spiel kippte tatsächlich ein letztes Mal, »weil sich die Bulgaren zu früh als Weltmeister fühlten und nur auf die letzten beiden Fehler von uns warteten«, wie Schumann weiter erzählt. »Mit ihrem abwartenden Spiel konnten sie uns nicht mehr unter Druck setzen. Wir spürten, hier geht noch was, und punkteten zehnmal in Folge.« Mit jedem Ballwechsel seien die technische Sicherheit und der Glaube an den Sieg zurückgekehrt, während sich beim Gegner lähmendes Entsetzen breitmachte. Den Matchball zum 15:13 verwandelten Kapitän Siegfried Schneider und Schumann dann mit einem erfolgreichen Doppelblock gegen Bulgariens besten Angreifer Zlatanov. »Wenn du nur auf Fehler des Gegners wartest, kannst du kein Spiel gewinnen«, weiß Schumann seitdem. »Wir waren nicht die Besseren, aber wir waren stärker im Kopf.«

Mit dem kaum für möglich gehaltenen 3:2-Sieg wurde der WM-Titel den bis dahin ungeschlagenen Gastgebern doch noch entrissen. Über die Endplatzierung in dieser Finalrunde, die kein echtes Endspiel hatte, entschied zwischen den beiden punktgleichen Mannschaften an der Spitze ein einziger Satz. Die DDR, die tags zuvor Bronzemedaillengewinner Japan unterlegen gewesen war, siegte mit einem Satzverhältnis von 20:6, die Bulgaren hatten eins von 20:7.

Das 50-jährige Jubiläum des »Wunders von Sofia« wird heute kaum gefeiert. In der Vergangenheit, erzählt Schumann, habe sich die zwölfköpfige Mannschaft, der neun Spieler von DDR-Rekordmeister SC Leipzig angehörten, immer mal wieder zusammengefunden, doch wurden diese Begegnungen irgendwann seltener. Mit Jürgen Freiwald (2014) und Wolfgang Webner (2020) sind zwei Spieler inzwischen verstorben. Auch Erfolgstrainer Jenter, der die DDR zwei Jahre später in München noch zur olympischen Silbermedaille führte und mit Leipzig 14-mal in Folge DDR-Meister wurde, zog sich später ins Private zurück und starb 2012 mit 82 Jahren in seiner Heimatstadt Leipzig.

Die Spieler erhielten 1970 für den WM-Titel je nach Einsatzzeit maximal 10 000 DDR-Mark. Die meisten von ihnen gingen nach der Wende in den vorzeitigen Ruhestand, entweder weil sie in ihrem Beruf nicht mehr gefragt waren oder im neuen Job nicht richtig Fuß fassen konnten. »Es gibt heute noch einen kleinen Stammtisch, der sich so alle zwei Monate im Bayrischen Bahnhof in Leipzig trifft - zuletzt im Februar. Da waren aber nur noch vier Weltmeister dabei. Das war natürlich der Corona-Pandemie geschuldet«, erzählt Rudi Schumann.

Mit ein bisschen Wehmut berichtet er von einer anderen Feieridee, aus der ebenfalls nichts wurde: »Die Berlin Volleys hatten die Absicht, uns Weltmeister zu einem Bundesligaspiel einzuladen. Vorgesehen war der Saisonstart am 17. Oktober gegen Düren.« Doch die strengen Hygienebestimmungen verhinderten den Besuch beim deutschen Meister. Nun werden sich die »Helden von Sofia« in aller Stille erinnern. An ein Ereignis, von dem der Deutsche Volleyball-Verband auch 30 Jahre nach der Wende kaum Notiz nimmt.

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