«Moralische Pflicht, den dunkelsten Teil aufzuarbeiten»

Neinstedter Anstalten im Harz zeigen Ausstellung mit Arbeiten eines Wettbewerbs für einen Ort des Gedenkens an Euthanasieopfer

  • Uwe Kraus, neinstedt
  • Lesedauer: 4 Min.

Unter dem Titel «Den Zahlen einen Namen geben» zeigt die Evangelische Stiftung Neinstedt in Sachsen-Anhalt derzeit eine Ausstellung mit Arbeiten eines Wettbewerbs für einen Gedenkort. Mit diesem soll an die Opfer der Euthanasie in Neinstedt erinnert werden. Ausgelobt haben den Wettbewerb die Evangelische Stiftung Neinstedt und die Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle/Saale. Dem Historiker Reinhard Neumann gelang es in Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden der Stiftung und Studierenden der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld, über 95 Prozent der Namen zu erforschen. Diesen Opfern soll nun mit einem Gedenkort ihre Identität wiedergegeben werden.

Die Geschichte des 1800-Seelen-Örtchens Neinstedt reicht bis ins Mittelalter zurück. Die neuere Geschichte beginnt mit der Gründung des Knabenrettungs- und Brüderhauses durch Marie und Philipp Nathusius als eine der mildtätigen Stiftungen durch Angehörige des vermögenden Bildungsbürgertums, wie sie in Deutschland an verschiedenen Orten entstanden. 1861 gründete die jüngste Schwester Philipps in unmittelbarer Nachbarschaft ein zweites Werk, die Elisabethstiftung, zur Betreuung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Tätige Nächstenliebe bestimmte das Programm und erstreckt sich beginnend im Königreich Preußen über fünf Epochen der deutschen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte. Beide Stiftungen entwickelten sich zu den größten diakonischen Einrichtungen im mitteldeutschen Raum.

Der Bielefelder Historiker Reinhard Neumann sagt: «Neinstedt ist meine zweite Heimat geworden. Die Geschichte der Stiftung ist äußerst spannend. Besonders fasziniert hat mich der Wandel Philipps von Nathusius vom ›Erbe von Beruf‹ zu einem engagierten Vorreiter der Sozialpolitik. Mit seiner Frau hat er ein Werk geschaffen, das man 170 Jahre später noch sehen kann. Das ist nicht selbstverständlich.» Acht Jahre hat sich Neumann durch die Akten der Evangelischen Stiftung Neinstedt gearbeitet und ein «Lesebuch zur Geschichte Neinstedts» vorgelegt. Dabei stützt er sich auf das von den Diakonen Werner Krause und Wolfgang Bürger als ehrenamtliche Archivpfleger gesammelte und archivarisch gesicherte historische Material. Hans Jaekel, Pädagogisch-Diakonischer Stiftungsvorstand, betont: «Christ sein braucht damals wie heute sozialpolitische Wirkung. Das zieht sich durch die lange Geschichte der Stiftung. Es ist ein gewaltiges Stück der Aufarbeitung. Es gibt viel Positives zu berichten, aber auch Dinge, die uns fassungslos machen, wie der Umgang mit der Euthanasie im Dritten Reich.»

Die Anstalten gerieten in den Sog des NS-Regimes. Auch in der Neinstedter Bruderschaft habe Hitlers Machtübernahme einen Freudentaumel ausgelöst. Im September 1933 wurde ein Führerbeirat inthronisiert, der national-konservative Vorsteher zum Rücktritt gedrängt. Innerhalb weniger Monate habe sich in den Neinstedter Anstalten die Gleichschaltung im Sinne des NS-Regimes etabliert. Mit Martin Knolle übernahm ein überzeugter Nationalsozialist das Vorsteheramt, der «aus Neinstedt das Musterbeispiel einer nationalsozialistischen-deutschchristlichen Brüderschaft für die gesamte deutsche Diakonie» formen wollte«. Bald wurden die Fürsorgezöglinge den im Sinne der NS-Volkswohlfahrt »schwachsinnigen« und »unnützen« Bewohnerinnen des Mädchenhauses Johannenhof vorgezogen. In den Einrichtungen wurden »zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« mindestens 133 Personen zwischen 1933 und Sommer 1937 zwangssterilisiert.

Zwischen 1938 und 1943 wurden nahezu 1000 Pfleglinge und Zöglinge aus dem Elisabethstift und dem Lindenhof in »Zwischenanstalten verlegt« und somit in Tötungsfabriken wie im anhaltischen Bernburg ermordet. Am 30. September 1938 meldete der Leiter des Elisabethstiftes, Pastor Sommerer, an Landesrat Gengnagel, die Verlegung von 86 Pfleglingen in die Landesheilanstalt Jerichow. Für fast alle bedeutete dies das Todesurteil, sie wurden in Brandenburg ermordet. Zwischen März und Dezember 1940 wurden 28 Personen aus Neinstedt verlegt, am 29. Januar 1941 kamen 339 Bewohner des Elisabethstiftes in die Landesheilanstalt Altscherbitz, die als »Verschiebestation in den Tod« galt und aus der über 1800 Anstaltsinsassen nach ihrer Verlegung nach Bernburg vergast wurden. Kinder, die als »nicht bildungsfähig« beurteilt waren, wurden nach Uchtspringe in der Altmark gebracht und mit einer Überdosis Luminal getötet. Von 1938 bis 1943 unterzeichnete Pastor Sommerer 744 »Entlassungen« aus Neinstedt. Mindestens 981 Frauen, Männer und Kinder wurden mit 51 Transporten weggebracht. Nach bisherigen Erkenntnissen ist in der Anstalt am Harz selbst im Zuge der Euthanasie kein Heimbewohner zu Tode gekommen.

»Die Stiftung sieht es als moralische Pflicht, diesen dunkelsten Teil der Neinstedter Geschichte detailliert aufzuarbeiten«, erklärt Hans Jaekel. »Ansonsten ist die Gestaltung unserer Gegenwart wie auch Zukunft zum Scheitern verurteilt.« An diesem leidvollen Kapitel wird Reinhard Neumann noch bis Herbst 2022 intensiv forschen.

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