Boris, das Kunstprodukt

Der Journalist Jan Roß hat eine neue Biografie über Boris Johnson geschrieben - und erliegt dabei schwerwiegenden Missverständnissen

  • Uwe Schütte
  • Lesedauer: 5 Min.

Die deutsche und insbesondere die westdeutsche Anglophilie ist eine eigentümliche Angelegenheit. Spätestens jedoch seit eine hauchdünne Mehrheit des britischen Wahlvolks im Juni 2016 den bodenlosen Lügen der »Vote Leave Campaign« aufgesessen ist und für den Brexit des Vereinigten Königreiches stimmte, herrschte hierzulande durchaus Erstaunen und Verwunderung über die Inselnation.

An vorderster Front der Kämpfer für die britische Unabhängigkeit vom Buhmann »Brüssel« stand damals wie heute Alexander Boris de Pfeffel Johnson. Legendär die Aufnahmen, die den Populisten mit dem blonden Haarschopf vor einem Bus zeigte, auf dem das Märchen prangte, dass ein EU-Austritt dem Steuerzahler jede Woche 350 Millionen Pfund ersparen würde, die dann ins staatliche Gesundheitssystem NHS fließen könnten. Und ebenso legendär der versteinerte Gesichtsausdruck von Johnson, der am Morgen nach dem Votum sein Erschrecken darüber verriet, was er angerichtet hatte. Auf das Referendum folgten drei Jahre, in denen sich die britische Nation tief spaltete und mannigfaltig blamierte. Insbesondere die Tories veranstalteten ein unwürdiges Polittheater, das die Demokratie im Mutterland der Parlamente nachhaltig beschädigte.

Am Ende dieser erbärmlichen Farce stand das absehbare Desaster: Unter dem Motto »Get Brexit done« wurde Boris Johnson Mitte Dezember 2019 mit überwältigender Mehrheit zum Premierminister gewählt. Doch dann folgte eine unvorhersehbare Katastrophe: Die Corona-Pandemie entblößte mit brutaler Konsequenz, dass in Westminster eine so inkompetente wie verantwortungslose Regierung saß, unter deren dilettantischer Regie dem unterfinanzierten Gesundheitssystem die Kontrolle entglitt. Der stümperhafte Zickzackkurs des Premierministers kostete nach offiziellen Angaben bisher vierzigtausend Menschen das Leben. Dass der fahrlässige Johnson zunächst für die Kameras die Hände von Infizierten schüttelte, dann als erster Regierungschef selbst schwer erkrankte, spricht Bände über sein mangelndes Verantwortungsbewusstsein.

Wer also verstehen will, wer dieser Boris Johnson ist und wie er »tickt« - der ist mit dem Porträt des Politikers von Jan Roß gut bedient. Nachvollziehbar klärt der Redakteur und Autor der Wochenzeitung »Die Zeit« seine Leser über die auffälligen Charaktereigenheiten und Denkweisen Johnsons auf, etwa indem er sie aus dessen Sozialisation sowie seinen Erfahrungen als nicht ganz zur englischen Elite zugehöriges Mitglied an elitären Kaderschmieden wie dem Privatinternat Eton oder der Oxford University erklärt. Überzeugend vermag Roß zu zeigen, dass sich hinter der Fassade des »Politclowns« eine durchaus vielschichtige und komplexe Persönlichkeit abzeichnet. »‘Boris‘ ist ein Kunstprodukt«, so Roß, weshalb eine differenzierte Würdigung dieser durchaus faszinierenden Politikergestalt dringend nötig ist.

Dass Roß ihn im Untertitel seines Porträts beschönigend als »Störenfried« apostrophiert, legt freilich das große Manko des Buches offen: Es erfüllt den journalistischen Auftrag, über das offen zutage Liegende zu informieren, versagt aber völlig, die Hintergründe und Folgen von Johnsons Regierungsstil zu erfassen. Anstatt die Tragikomödie zu sezieren, die »Boris« seinem Land aufzwingt, empfiehlt Roß vielmehr die politische Philosophie des »Johnsonismus« den europäischen Konservativen als geeignete Verjüngungskur, um den Restbestand an sozialdemokratischen Wählern auf ihre Seite zu ziehen. Boris Johnson aber ist kein interessanter Störenfried, sondern ein rücksichtsloser Lügner, dem aus narzisstischem Geltungsdrang jedes Mittel recht war, um an den Posten des Premierministers zu gelangen. Als Möchtegern-Churchill-Nachfolger versucht er nun in die Geschichtsbücher einzugehen - mit der rücksichtslosen Durchsetzung eines »hard Brexit«, der zumal im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie kurz- wie langfristig desaströse Folgen zeitigen wird.

Jan Roß hat Johnson nie persönlich getroffen. Seine Kenntnis der Person beruht auf der Lektüre anderer journalistischer Biografien, seine Erfahrung mit Großbritannien beschränkt sich offenkundig auf einige Recherchereisen. Entscheidende Faktoren in der Sache »Boris« erkennt er nicht oder ignoriert sie. So entgeht dem Außenblick von Roß etwa, wie wesentlich Johnson parteipolitisch getrieben wird von den Brexit-Hardlinern. Ebenso schmälert er die Abhängigkeit des Premierministers von seinem Berater Dominic Cummings, der in beispiellos undemokratischer Weise hohe Verwaltungsbeamte und Kabinettsminister aus dem Machtapparat von Westminster verdrängt hat. Die Verletzung eines internationalen Rechtsabkommens durch den angedrohten Bruch der Brexit-Vereinbarung etwa, der Großbritanniens außenpolitisches Ansehen nachhaltig beschädigen würde, trägt Züge von Cummings strategischen Pokerspielen.

Roß zeigt sich weiterhin unbekümmert um die vielen Schäden, die Johnsons rücksichtsloses Machtkalkül anrichtet und deren Konsequenzen seine verführten Wähler erleiden werden. Lieber preist er ihn als Proponenten eines neuen, »volkskonservativen« Politmodells. Dass die Tories unter Johnson im Herbst 2019 altgediente Labour-Hochburgen einnahmen, lag freilich vor allem daran, dass die Opposition unter Jeremy Corbyn ein in jeder Hinsicht erbärmliches Bild in Sachen Brexit abgab. Den Labour-Wählern die EU als Sündenbock zu verkaufen, damit sie durch das Brexit-Versprechen ihren Protest gegen die neoliberale Austeritätspolitik der Konservativen ausdrücken, zeugt zwar vom politischen Geschick Johnsons, mehr aber noch von seiner Perfidie.

Davon aber kein Wort bei Roß, der offensichtlich auch nicht die Rolle des NHS als einer Art Nationalheiligtum der britischen Gesellschaft begriffen hat. Nachdem er seine Covid-Erkrankung überlebt hatte, verkündete Johnson vollmundig, der NHS sei »das schlagende Herz dieses Landes, er ist das Beste an diesem Land, er ist unbesiegbar, seine treibende Kraft ist die Liebe.« Dass man den Premierminister in den Tagen seines Krankenhausaufenthalts erstklassig versorgte, während Tausende Normalbürger unsachgemäß behandelt starben, erwähnt Ross nicht. Oder dass der Gesundheitsdienst von den Tories jahrzehntelang kaputtgespart wurde. Auch dass Johnsons Regierung noch Wochen vorher den Krankenschwestern eine Erhöhung ihres empörend niedrigen Gehalts verweigerte, fällt unter den Tisch. Und ebenso, dass sogar das bislang Tory-hörige Seniorenschmierblatt »Daily Mail« angesichts des verheerenden Pandemiemissmanagements nun lautstark gegen die inkompetente Regierung anschreibt.

Wenn Roß vielmehr prophezeit, unter dem vermeintlich sozial geläuterten Premier würde nun »eine neue Tory-Wohlfahrtsstaatlichkeit« im Vereinigten Königreich anbrechen, erweist er sich als vollends naiv. Sein Buch liefert das zurechtgebogene Zerrbild des Störenfrieds Boris Johnson, der zum Politikmodell für Post-Merkel-CDU stilisiert werden soll, anstatt das zutreffende Porträt eines überheblichen, verantwortungslosen, schamlosen Zerstörers zu zeichnen.

Jan Roß: Boris Johnson. Porträt eines Störenfrieds. Rowohlt,174 S., br., 18 €

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