Lernen im Rekordtempo

Kai Havertz profitiert schon jetzt von seinem Wechsel nach England

  • Frank Hellmann, Köln
  • Lesedauer: 3 Min.

Die aktuellen Einschränkungen sind auch für Nationalspieler nicht so ganz einfach. Unter normalen Umständen hätte Kai Havertz wohl mehrere Dutzend Freikarten verteilen können, wenn Zuschauer in Köln zugelassen worden wären. Familie, Freunde und Bekannte des gebürtigen Aacheners wohnen nicht weit entfernt - und waren auch ein Grund, dass sich der nach London verzogene 21-Jährige auf die Länderspiele in »der alten Heimat riesig gefreut« hatte. Aber auch ein leeres Stadion ohne Angehörige kann offenbar inspirieren - denn beim 3:3 am Dienstagabend in der Nations League gegen muntere Schweizer überzeugte das Ausnahmetalent des deutschen Fußballs endlich auch vollends im Nationaltrikot.

»Man sieht einfach seine Fähigkeiten am Ball, seine manchmal sehr guten Pässe in die Spitze. Der Kai hat sich sehr gut eingefügt«, lobte Bundestrainer Joachim Löw den bislang besten Auftritt von Havertz in der DFB-Auswahl. Neben dem beherztem Solo mit gekonntem Abschluss zum zwischenzeitlichen 2:2 gab er zuvor beim Anschlusstreffer von Timo Werner die Vorlage und leitete später das Ausgleichtor von Serge Gnabry ein. »Er war ein Spieler, der anspielbar war, der die Bälle gut verteidigt hat. Es war ein wirklich gutes Spiel vom Kai«, fasste Löw zusammen, dem die fußballerische Begabung naturgemäß seit Längerem bekannt ist. Die deutsche Nummer 21 redete danach aber ungern über sich, sondern lieber über das Team: »Wir befinden uns in einem Prozess, wir haben eine junge Mannschaft,. Wir lassen uns nicht von unserem Weg abbringen.« Havertz ist ja ohnehin der Meinung, »noch viele Jahre vor sich zu haben«. Einerseits. Andererseits ist es für überzeugende Leistungen nie zu früh.

Dass der Ausnahmekönner nach seinem Debüt vor zwei Jahren in der Nationalmannschaft vergleichsweise wenig Spielzeit erhielt, war oft genug Löws bevorzugtem System mit Dreierkette geschuldet. Dann fehlte im offensiven Mittelfeld oder auf den Flügeln genau jener Platz, den ein Freigeist wie Havertz braucht, der sich mit Vorliebe als stiller Dirigent zwischen den Linien tummelt. Vor der Coronakrise hatte er bei sieben Einsätzen unter Löw nur ein einziges Mal durchspielen dürfen. Dabei hatte der Bundestrainer ja mal gesagt: »Kai Havertz kann für die Nationalmannschaft ein prägender Spieler sein. Für ihn finden wir einen Platz.« Danach hat Löw lange vergeblich gesucht. Nun konnten sich 8,19 Millionen Fernsehzuschauer in der ARD ein Bild machen, was Havertz der DFB-Elf an Inspiration geben kann.

Zudem fiel auf, dass sich Havertz in vielen Zweikämpfen standfest zeigte - und nicht mehr alles über seine elegante Ballbehandlung regelte. Eine Folge eines Reifeprozesses im Rekordtempo? Nach seinem Wechsel zum FC Chelsea, der insgesamt bis zu 100 Millionen Euro für das »German Wunderkind« (BBC) an Bayer Leverkusen bezahlt, hat der teure Neuzugang schnell gemerkt, dass er sich umstellen muss. In der Premier League kommt es ihm nämlich so vor, »dass es keine durchschnittlichen Spieler gibt.« Alles muss in höchster Geschwindigkeit und Intensität erledigt werden. »Die Zweikämpfe sind härter und schneller«, hat er festgestellt.

Den Fußball auf der Insel empfindet er als »ganz anderes als in Deutschland«. Havertz sagte vergangene Woche in einer digitalen Pressekonferenz mit seinem Kumpel Julian Brandt: »Für mich war es ein großer Schritt, meine Familie, mein Umfeld zu verlassen.« Die Blues, speziell Trainer Frank Lampard, erwarten viel von ihm. Sein Dreierpack im Ligapokal gegen den FC Barnsley kann nur der Anfang gewesen sein. Das Heimspiel am kommenden Sonnabend gegen Southampton könnte bereits die Gelegenheit sein, mit dem ersten Premier-League-Treffer nachzulegen.

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