Stunde der Wahrheit für die Opposition

In Belarus wird weiter gegen Präsident Lukaschenko demonstriert. Tichanowskaja ruft zu Generalstreik auf

  • Denis Trubetskoy, Kiew
  • Lesedauer: 3 Min.

Den großen Erfolg konnte die Opposition nicht erzielen, der Protest hat allenfalls neue Impulse bekommen. Mit ihrem Ultimatum hatte Swetlana Tichanowskaja, die Wahlgegnerin des belarussischen Staatschefs Alexander Lukaschenko bei der umstrittenen Präsidentschaftswahl im August, einiges riskiert. Bis zum 25. Oktober hatte Lukaschenko zurücktreten und politische Gefangene freilassen sollen. Als Reaktion auf die Nichterfüllung der Forderungen war ab Montag ein neuer Generalstreik angekündigt. Erste Streiks im August hatten zwar durchaus wichtige Staatsunternehmen betroffen, waren aber nicht groß genug gewesen. Der neue Streikaufruf Tichanowskajas war tatsächlich ein Wagnis, weil die zwar immer noch beeindruckenden Sonntagsdemonstrationen zuletzt doch etwas kleiner wurden. Die Sicherheitsbehörden hatten die Lage mehr und mehr in den Griff bekommen.

So wurden dieser Sonntag und Montag für die Opposition zu einer Stunde der Wahrheit. Hätten die Menschen auf den Aufruf nicht reagiert, hätte dies zumindest die Figur Tichanowskaja und die von ihr beanspruchte Rolle als nationale Anführerin aus dem ungewollten Exil in Frage gestellt. Der Autokrat Lukaschenko hatte parallel zur Aktion der Opposition am Sonntag in Minsk eine Großdemonstration seiner Anhänger veranstalten wollen. Der Gewerkschaftsverband war für die Organisation zuständig erklärt worden und hatte mit über 50 000 Teilnehmern gerechnet. Jedoch wurde die Demonstration abgesagt. Offiziell, weil man die Sicherheit nicht garantieren konnte. Gerüchten zufolge fand der Verband allerdings einfach viel zu wenige, die bereit waren, sich an dem Aufmarsch pro Lukaschenko zu beteiligen.

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Die Opposition dagegen zeigte neue Stärke. Nach ihren Angaben mehr als 100 000 Menschen kamen friedlich in der belarussischen Hauptstadt zusammen, obwohl 12 der 29 U-Bahnhöfe geschlossen worden waren und die Sicherheitsbehörden wieder im großen Umfang in der Innenstadt Militärtechnik aufgefahren hatten. Kurz nach Ende der Veranstaltung wurden gegen Teilnehmer Blendgranaten und Gummigeschosse eingesetzt, mindestens eine Person erlitt dadurch Verletzungen.

Am Montagmorgen begannen Streiks bei wichtigen Einrichtungen wie dem Düngemittelhersteller Hrodna Azot, dem Minsker Traktorenwerk sowie auch bei der Staatlichen Universität. Weitere Schlüsselunternehmen wie etwa der Ölkonzern Belorusneft schlossen sich später an. Ein Teil der Mitarbeiter demonstrierte, andere erschienen nicht am Arbeitsplatz. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass sich viele Mitarbeiter privater Firmen dem Streik anschlossen. Der 26. Oktober wurde dort oft zum arbeitsfreien Tag erklärt, in anderen Fällen wurden kurzfristig Ferien angesetzt oder die Firmen blieben vorgeblich aus technischen Gründen geschlossen. Auch die Mitarbeiter des wichtigen Mobilfunkanbieters MTS traten in Streik.

Für den Streiktag hatte die Opposition zusätzlich den bereits traditionellen Marsch der Rentner organisiert. Für den Montagabend waren die Autofahrer dazu aufgerufen, die Straßen zu blockieren. Im Anschluss sollten Demonstrationen zur Unterstützung der Streikenden stattfinden. »Dieser Sonntag war sehr wichtig«, erläutert ein Minsker Journalist dem »nd«. »Eine derart große Aktion habe ich in diesem Herbst noch nicht erlebt. Auch der Streik ist größer, als ich es erwartete.« Allerdings sei er doch zu klein, um Lukaschenko und seinen Apparat zu beeindrucken. Die Polizei nahm bis zum Montagnachmittag mehr als 100 Menschen fest.

»Es kommt stark darauf an, wer jetzt die Initiative erlangt«, schreibt der belarussische Politologe Anton Schrajbman. »Im September hat Lukaschenko das Spiel bestimmt, nun ändert sich das. Die Proteste waren wieder genauso groß wie im August.« Es sei angesichts der Entwicklung nicht ausgeschlossen, dass Lukaschenko aufgrund wieder steigender Teilnehmerzahlen an den Protesten die Nerven verliere und Fehler mache. Doch egal, ober er sich in Verhandlungen nachgiebiger zeige oder die Repressalien verschärfe: »In beiden Fällen würden die Machthaber auf dünnem Eis tanzen.« Neue Impulse hat der Protest erhalten, die weitere Entwicklung in dieser Woche könnte die anhaltende Pattsituation in Belarus auflösen.

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