Die Avantgarde-Tunten

Vor 30 Jahren wurde die Mainzer Straße in Berlin geräumt.

  • Mischa Pfisterer und Rainer Rutz
  • Lesedauer: 6 Min.

Ich bin stundenlang mit Gasmaske herumgerannt, um irgendeine Art von Kommunikation zwischen den Häusern aufrechtzuerhalten«, erinnert sich Bastian Krondorfer an die Vormittagsstunden des 14. November 1990. Pünktchen ist sich sicher, dass sie »irgendwelche Gasgranaten gelöscht« habe. Nancy sagt: »Ich selbst war an den Krawallen nicht beteiligt.«

Die Räumung der 13 besetzten Häuser in der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain, die an jenem Mittwoch vor 30 Jahren mit brutaler Polizeigewalt durchgezogen wurde, ist bis heute im Gedächtnis der radikalen Linken präsent. Zwar zählte der Ostteil Berlins allein im Sommer 1990 alles in allem fast 130 Hausbesetzungen. Dass von all diesen Projekten aber insbesondere die Mainzer Straße in Erinnerung geblieben ist, hängt vor allem mit ihrer Räumung zusammen.

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Tausende Polizisten, mehrere Spezialeinsatzkommandos, etliche Wasserwerfer, Räumpanzer und Hubschrauber, dazu Blendgranaten und Gummigeschosse: Der damalige Westberliner Innensenator Erich Pätzold (SPD), dessen Polizei Anfang Oktober das Kommando im Osten der Stadt übernommen hatte, ließ sich in seinem Kampf gegen die rund 200 Besetzer nicht lumpen. Am Ende des sechseinhalbstündigen Polizeieinsatzes, kurz vor 13 Uhr, glich die Mainzer Straße einem Trümmerfeld, und die Polizei konnte vermelden: »Übergabe der Häuser an den Verantwortlichen«. Darunter befand sich auch das Haus Mainzer Straße 4, das Zuhause von Bastian Krondorfer, Pünktchen, Nancy und gut 30 weiteren schwulen Autonomen und Punks - das Tuntenhaus.

30 Jahre später treffen Krondorfer, Pünktchen und Nancy für »nd« coronabedingt bei einer Online-Konferenz aufeinander. »Wir waren Mitte 20 und in der Besetzerszene eine große Nummer. Nichts ging ohne die Mainzer Straße, und in der Mainzer Straße ging nichts ohne uns, das Tuntenhaus«, sagt Krondorfer, wohl wissend, dass das »ein bisschen arrogant« klingt.

Es habe keine Besetzergruppe gegeben, bei der nicht jemand aus dem Tuntenhaus mit an Bord gewesen sei. »Wir waren nicht die schrillen Tunten mit den schrillen Festen. Okay, das waren wir auch«, sagt Krondorfer, der heute im Gesundheitsbereich tätig ist. »Aber wir hatten eben auch überall unsere Finger drin und haben wahrscheinlich viel mehr für die Gesamtbewegung gemacht als für unsere schwul-lesbischen Partikularinteressen.«

Nun können Erinnerungen trügen. Selbst Krondorfer, der sich an vieles zu erinnern glaubt, gibt mit Blick auf den Tag der Räumung zu: »Ich weiß es nicht mehr so genau, war ja wie ein Film.« Auch über den Zustand des Hauses gehen die Meinungen auseinander. »Der Seitenflügel war nicht bewohnbar«, sagt Pünktchen. »Alle Zimmer waren bewohnbar«, interveniert Krondorfer. »Ganz oben war Taubendreck. Da konnte man nicht rein. Aber die meisten Zimmer haben wir irgendwie hergerichtet«, vermittelt Nancy.

Jenseits dieser Detailfragen, über deren korrekte Beantwortung - »Ja«, »Nein«, »Doch« - sich die drei heute noch anfrotzeln, stimmen Nancy und Pünktchen ihrem Ex-Mitbesetzer Krondorfer hinsichtlich der Bedeutung des Tuntenhauses für die Mainzer Straße zu. So fanden etwa die Verhandlungen mit dem Senat im Vorfeld der Räumung im Haus Nummer 4 statt, der linksradikalen Kommunikationszentrale. Die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley habe ebenso in der Küche des Tuntenhauses rumgehockt und zu vermitteln versucht wie Renate Künast von den Grünen. »Ja, wo denn auch sonst?«, meinen die drei.

»Wir waren Avantgarde in Sachen Politik«, sagt Nancy, heute Projektleiterin in einer Freiwilligenagentur. Wichtig waren ihr dabei »diese verschiedenen Ebenen von Radikalität«. Der Gesamtauftritt als linksradikale Tunten war demnach auch als doppelte Kampfansage zu verstehen: an die Macker in der eigenen Besetzerszene und an die verbürgerlichten Homos in der Schwulenszene. Man hätte, so Nancy weiter, einfach alles und jeden »auf die Schippe« genommen, »und das so gnadenlos, dass man aus vollem Hals lacht«. Dass das Tuntenhaus damals viel Aufmerksamkeit bekommen habe, hänge auch damit zusammen, »dass der Typ der Polit-Tunte für viele etwas komplett Ungewohntes war«. Männer in Frauenklamotten, geschminkt und aufgetakelt, das alles aber eben nicht nur betont punkig, sondern auch antirassistisch und antikapitalistisch - das war provokativ. »Und wir waren krass provokativ«, sagt Nancy. Einige seien bei den Besetzertreffen stets »im Fummel« aufgekreuzt. »Wir haben dann regelmäßig die Heten-Männer in den Hintern gekniffen. Pünktchen, du wirst dich erinnern!« Pünktchen lacht.

Fast alle Hausbewohner hatten zuvor in Westberlin gewohnt, wie Krondorfer und Pünktchen vornehmlich in Kreuzberg. Am 30. April, dem Tag der Besetzung, hatten die meisten von ihnen in den Ostteil der Stadt, eben die Mainzer Straße, »rübergemacht«. Für viele Anwohner Ost waren die Besetzer im Allgemeinen und die Tunten im Besonderen vor allem eines: durchgedrehte Westler. Die Stimmung? Mitunter freundlich, mitunter desinteressiert, mitunter feindselig. »Man beäugte sich mit der anderen Seite«, berichtet Pünktchen. Es habe Alteingesessene gegeben, »die kamen vorbei, standen da und schauten auf die Straße«.

Auch die Ur-Friedrichshainerin Nancy schaute recht bald. Nur anders. »Ich dachte mir: Mensch, da gehe ich doch mal gucken! Und schon saß ich beim Plenum mit dabei.« Sie sei schwer beeindruckt gewesen »von diesen Autonomen, Tunten und Schwulen«, die so radikal waren. »Als ich dann gesagt habe, ich finde diesen gesetzlosen Zustand gut, fanden das alle toll - und ich bin eingezogen.« Sie war somit eine der wenigen Ost-Tunten.

Überhaupt diese Plenen. Für Bastian Krondorfer war das halbe Jahr ein einziges Dauerplenum. »Das meine ich nicht negativ. Wir haben oft mit 30 Leuten Plenum gemacht. Das war gut, weil es da um etwas ging.« Immer wieder eine Rolle spielte dabei die Verteidigung der Straße gegen Neonazi-Angriffe, ergänzt Nancy. Bei einem Plenum ging schließlich das Nebelhorn. »Das hieß Nazi-Alarm. Da war ich noch neu im Haus und hatte erwartet, dass jetzt alle unter den Tisch krauchen. Aber dann pellten sich ein paar Jungs die Lederjacke über, nahmen sich Knüppel und gingen los zur Tür. Ich war hin und weg.« Krondorfer: »Ich hatte keine Lederjacke, sondern eine Bomberjacke an.« Nancy: »Dann war es halt eine Bomberjacke.«

Die Neonazis hatten ihre Angriffe »irgendwann im Sommer« eingestellt, sagt Krondorfer. Ungefähr zur gleichen Zeit übernahmen Westberliner Wohnungsbaugesellschaften die Kontrolle bei den Ostberliner Kommunalen Wohnungsverwaltungen, darunter auch die, die für die Mainzer Straße zuständig war. Die Tage der Besetzer waren von nun an gezählt. Die West-Verwalter hatten ebenso wenig ein Interesse daran, Verträge abzuschließen und die Besetzungen zu legalisieren, wie ein Großteil der Autonomen, auch wenn, wenigstens in der Küche des Tuntenhauses, verhandelt wurde. Bis zur Räumung. »Ich konnte gerade mal eine Tasche mit Klamotten retten«, erinnert sich Pünktchen an den 14. November 1990. »Wir waren zutiefst traumatisiert, noch Jahre danach«, so die Maskenbildnerin und Performance-Darstellerin.

Einige Bewohner zogen in ein »neues« Tuntenhaus an der Kastanienallee in Prenzlauer Berg, einige zogen sich zurück. Und heute? Was bleibt, meint Nancy, sei die Erkenntnis, »dass man vom Rand aus, aus einer doppelt abgegrenzten Position, radikale Politik machen und Dinge gestalten kann. Das prägt.«

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