Nähmaschinen stehen still

Hunderttausende Beschäftigte in der Textilindustrie stehen vor dem finanziellen Aus

  • Michael Lenz
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn eines in der Corona-Ära sicher ist, dann: dass nichts sicher ist. Das musste in diesen Tagen die Textilbranche von Bangladesch erfahren. Im Frühjahr war wegen Corona weltweit der Markt für Mode und Schuhe massiv eingebrochen, Arbeiter*innen wurden entlassen, Fabriken geschlossen. Als es nach dem Ende der Lockdowns in den Hauptabnehmerländern zunächst wieder aufwärtsging, waren Absatz und Beschäftigung fast wieder auf dem Niveau der Zeit vor Corona. Die Freude, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein, währte jedoch nur kurz.

Die Textilfabriken in Bangladesch, nach China der zweitgrößte Bekleidungsexporteur der Welt, haben wegen der wirtschaftlichen Auswirkungen der zweiten Coronawelle in Europa und Nordamerika nicht nur mit stornierten oder verschobenen Aufträgen zu kämpfen, sondern auch mit fallenden Preisen. Zwischen Januar und September lagen nach Angaben der Bangladesh Garment Manufacturers and Exporters Association die Preise für Textilien, die 80 Prozent der Exporte des Landes ausmachen, um durchschnittlich 2,1 Prozent unter denen des Vorjahres. Im September seien die Preise dann um weitere 5,2 Prozent gesunken, so der Spitzenverband der Textilhersteller des südasiatischen Landes.

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Die großen Modemarken geben den coronabedingten Umsatzrückgang durch Preisdrückerei an die Hersteller weiter, heißt es auch in einer Ende Oktober veröffentlichten Studie der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) über die Auswirkungen von Corona auf die Textilhersteller. Die schon zuvor wegen des weltweiten Überangebots von Textilfabriken schwache Verhandlungsposition der Hersteller sei durch die Coronakrise weiter geschwächt worden.

Die Corona-Pandemie hat weltweit massive Auswirkungen auf die Fabriken und Arbeitsplätze. Im ersten Halbjahr 2020 sei die Nachfrage nach Textilien um 70 Prozent eingebrochen, hieß es in der ILO-Studie. Frauen sind laut Chihoko Asada Miyakawa, ILO-Direktorin für die asiatisch-pazifische Region, besonders stark vom Verlust von Arbeitsplätzen und Einkommen betroffen, weil sie den größten Teil der Arbeiterschaft in den Textilfabriken stellen.

In den zehn Ländern Bangladesch, Kambodscha, China, Indien, Indonesien, Myanmar, Pakistan, Philippinen, Sri Lanka und Vietnam arbeiteten 2019 laut der ILO 65 Millionen Menschen in den Textilfabriken. Das sind 75 Prozent aller Textilarbeiter*innen der Welt. Die asiatische Textilbranche steht seit Langem wegen unmenschlicher Arbeitsbedingungen und geringen Löhnen für die Beschäftigten in der Kritik.

Kalpona Akter, Chefin des »Zentrums für Arbeitersolidarität in Bangladesch«, befürchtet vor dem Hintergrund der zweiten Coronawelle in den wichtigsten Importländern für die kommenden Monate weitere Einbrüche der Branche. Leidtragende seien wieder die Arbeiter*innen, die schon durch die erste Welle Entlassungen hinnehmen mussten, sagte die Gewerkschafterin im Webinar des auf Wirtschafts- und Armutsforschung spezialisierten Sanem-Instituts in Dhaka.

Rund ein Drittel der Textilarbeiter*innen von Bangladesch hat seit Ende März heftige Einkommensverluste hinnehmen müssen. Das geht aus einer Umfrage unter weiblichen Beschäftigten der Textilbranche hervor, die Mitte Oktober in Dhaka vorgestellt wurde. 32 Prozent der befragten Arbeiterinnen berichteten von Einkommensverlusten von mehr als 50 Prozent, hieß es in der im Auftrag der Awaj-Stiftung für die Rechte der Arbeiter durchgeführten Untersuchung. 52 Prozent der Befragten seien durch die Aufnahme von Darlehen bei Kredithaien für das Überleben ihrer Familien in die Schuldenfalle geraten.

Die KfW Entwicklungsbank gab in diesem Zusammenhang Mitte November bekannt, dass rund 90 Millionen Euro vonseiten der Europäischen Union in ein Regierungsprogramm fließen, damit zumindest kurzfristig Lohnersatzleistungen als Überbrückung gezahlt werden können. Ab November sollen sie - zunächst für maximal ein Vierteljahr - monatlich umgerechnet rund 30 Euro erhalten. Die Bundesregierung stockt die Mittel für das Programm um 20 Millionen Euro auf.

Ein ähnlich düsteres Bild wie in Bangladesch bietet sich in Kambodscha, wo sich Zehntausende Textilarbeiter*innen wegen der Einkommensverluste durch die Schließung von Fabriken für ihr Überleben verschulden. »Sie kämpfen unter dem immensen Druck der Mikrofinanzinstitutionen darum, ihre Familien zu ernähren und ihren (als Sicherheit gestellten) Grundbesitz behalten zu können«, warnt die kambodschanische Menschenrechtsorganisation LICADHO.

ILO-Expertin Miyakawa fordert, die soziale Katastrophe der Verarmung der Textilarbeiter*innen als Chance für die Gestaltung einer mehr »menschenzentrierten Zukunft der Branche« zu begreifen.

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