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»Ein Buchladen ist ein utopischer Ort«

Diesen Donnerstag eröffnet in Berlin die Buchhandlung »She Said« - dass in ihr fast nur Werke von weiblichen und queeren Autor*innen in den Regalen stehen, ist die Reaktion auf eine Schieflage im Literaturbetrieb

  • Julia Trippo
  • Lesedauer: 8 Min.

Auf dem Kottbusser Damm in Berlin, an der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln, wird heute ein neuer Buchladen eröffnen. Die Besonderheit: im Sortiment von She Said sollen fast ausschließlich weibliche und queere Autor*innen geführt werden. Emilia von Senger, die Geschäftsführerin des Buchladens She Said (deutsch: »sie sagte«) stellt problemlos zwischen komplexen Themen Verbindungen her - sie drückt sich wie eine Person aus, die viel liest. Fast jeden Gedankengang ergänzt die 32-Jährige mit dem Satz: »Ich habe da neulich ein Buch drüber gelesen.«

Mit ihrem eigenen Geschäft möchte von Senger die Literaturauswahl auf dem Markt diversifizieren und erreichen, dass Menschen mehr queere und weibliche Autor*innen lesen und entdecken können. Für sie ist eine Buchhandlung ein utopischer Ort: »Wenn du einen eigenen Ort schaffst, dann kann man selbst entscheiden, wie der aussehen und was da gelten soll.« Deswegen werden bei »She Said« Bücher aus allen Bereichen und aller Genres angeboten: Romane, Sachbücher, Graphic Novel, Kochbücher, Lyrik und Magazine. Jeden Dienstag soll es, sobald möglich, eine Veranstaltung geben - wie einen Buchclub, Diskussionsrunden, Gespräche zu Gesundheitsthemen rund um queere Gesundheit, eventuell sogar Yoga. Damit will von Senger einen Ort schaffen, wo Leute ins Gespräch kommen können. Ihrer Meinung nach nehmen fixe gesellschaftliche Treffpunkte durch den Rückgang von Religion, Parteiangehörigkeit und Gewerkschaftsmitgliedschaft ab. Deswegen müssten neue Orte geschaffen werden wie Buchläden, die essenzielle kulturelle Orte seien.

Es gibt aber auch Menschen, die mit diesem Konzept nichts anfangen können. Oft höre die Buchhändlerin den Einwand, nicht das Geschlecht, sondern die Qualität bestimme die Wahl der Lektüre, erzählt sie. Geduldig erwidere sie dann, dass das Verständnis von Qualität nicht objektiv ist: So wurde beispielsweise Literatur von Frauen Mitte des 20. Jahrhunderts mit Themen wie Häuslichkeit und Sorgearbeit lange als »Hausfrauenliteratur« abgetan. Mittlerweile gilt sie als seriöse Literatur und wird im Feuilleton besprochen. Außerdem wisse niemand wie gut ein Buch ist, bevor man es liest.

Das Konzept des feministischen Buchladens gibt es schon lange, seit den 70ern und 80ern sind in vielen deutschen Städten sogenannte Frauenbuchhandlungen entstanden. Oft war die Anwesenheit von Männern unerwünscht: Frauenbuchhandlungen wurden als Schutzräume für Frauen verstanden. Auch wenn »She Said« in der Tradition dieser Frauenbuchhandlungen stehe, sind Männer hier aber ausdrücklich willkommen: »Männern entgeht genauso etwas, wenn sie keine Bücher von Autorinnen lesen und diese Sicht der Welt auch ihnen vorenthalten wird«, findet von Senger.

Im Buchladen soll es sogar eine Rubrik zu kritischer Männlichkeit geben, in der Bücher von Trans- und Cis-Männern zu dem Thema angeboten werden. Ganz streng wird es in Hinblick auf andere Autoren bei »She Said« nicht sein. Falls jemand in den Laden kommt und ein Buch von einem Mann bestellen möchte, ist dies auch möglich, aus wirtschaftlichen Gründen. Ein Buch von Thilo Sarrazin würde jedoch nicht bestellt werden, gesteht sie lachend.

»She Said« sei als die neue Generation von Frauenbuchhandlung zu verstehen: Nicht nur weil Männer, sondern auch die queere Community hier mit einbezogen werden. Für Emilia von Senger stellt das Patriarchat queeren Menschen ähnliche Hürden wie Frauen - sie erfahren ähnliche Ablehnung, ähnliche Diskriminierung und die heteronormative Erwartungshaltung. Von Senger selbst empfindet Geschlechternormen als unglaublich erdrückend und starr. Durch jede Person, die sich nicht eindeutig als Frau oder als Mann definiert, gebe es mehr Freiheit für alle, sagt sie. In der heutigen Zeit lösten sich Geschlechterzuschreibungen und altbekannte Grenzen auf, »She Said« denke das mit und gebe allen einen Raum.

Der Buchladen liegt im Erdgeschoss, durch die Glasfront war vor ein paar Wochen noch eine Baustelle zu sehen. In den großen, hellen Räumlichkeiten gibt es neben den Regalen für rund 2000 Bücher auch eine Kinderbuchecke und ein Café. Noch bevor das Geschäft eröffnet wurde, folgten dem Instagram-Account von »She Said« bereits fast 15 000 Menschen, die überwiegende Mehrzahl davon weiblich. Wie groß die lesende Community auf auf der Plattform ist, wurde von Senger bewusst, als sie selbst anfing, Buchempfehlungen dort zu veröffentlichen. Als sie vor zweieinhalb Jahren wegen einer langen Krankheit das Haus nicht verlassen konnte, verbrachte sie viel Zeit damit, Bücher zu lesen und zu besprechen. Sie wurde daraufhin zu Veranstaltungen der Literaturbranche eingeladen und lernte Mitarbeiter*innen der Verlage kennen. Für von Senger ist Instagram ein wichtiges Marketingtool, aber auch eine Kommunikationsplattform: So kann sie Gruppen beispielsweise nach Buchtipps und -wünschen fragen und über jeden Schritt informieren.

Durch eine Erbschaft und Angespartes hat von Senger die finanziellen Voraussetzungen, dieses Geschäft zu eröffnen. Sie ist sich dieser Privilegien durchaus bewusst: »Mir ist klar, dass das was ich tue, nicht jeder tun kann, weil er oder sie einfach nicht die Mittel dazu hat.« Sie habe auch nicht den gleichen Druck wie Menschen ohne Erbschaft, die einen Kredit aufnehmen müssten. Dass sie mit »She Said« andere unabhängige Buchläden verdrängen könnte, ist eine Sorge von ihr. Mit den Bücherhandlungen in der unmittelbaren Umgebung ist sie daher in einen Dialog getreten. Gleichwohl ist die studierte Politikwissenschaftlerin auch davon überzeugt, dass sie einen Ort schafft, den es so noch nicht gab und somit auch niemanden verdrängen kann.

Die Besitzerin des Buchgeschäfts ocelot vermittelte den jetzigen Laden auf dem Kottbusser Damm. Von anderen Buchhandlungen wurde ihr gesagt, dass die Dichte von Menschen, die Bücher kaufen, innerstädtisch so hoch ist, dass mehrere Buchläden koexistieren können. Die Kundschaft in Berlin sei generell eher sensibel, nicht bei Amazon zu bestellen, sondern in unabhängigen Geschäften zu kaufen. Der Ort, an dem die Buchhandlung entsteht, liegt an der Grenze von Kreuzberg zu Neukölln - die Gentrifizierung ist hier voll im Gange. Dass der Laden ein Teil dessen ist, erkennt auch von Senger an.

Von Senger selbst wohnt ebenfalls in Kreuzberg, sie ist in Berlin aufgewachsen. Das eine Buch, das für sie alles veränderte, las sie mit Mitte 20: Es war »Die Glasglocke« von Sylvia Plath. Der Roman berührte sie auf eine ganz besondere Weise: Ihr fiel auf, dass er von einer Frau geschrieben war und von den spezifischen Diskriminierungen handelte, der die Hauptfigur als Frau in den USA der 60er Jahren ausgesetzt war. Von Senger sagt, sie habe schon immer viel gelesen, aber bis dahin nie auf das Geschlecht der Autor*innen geachtet. An das Werk einer Autorin in ihrer Schullektüre kann sie sich - trotz Deutsch-Leistungskurs - nicht erinnern. Nach der Lektüre von »Die Glasglocke« kam ihr die Idee einer Autorinnenquote: Mit den Werken von Frauen, sagt sie, könne sie sich ganz anders identifizieren und auch Vorgänge in sich viel besser verstehen.

Nicht nur im Kanon der Schulliteratur wird ein klares Ungleichgewicht zwischen Autoren und Autorinnen deutlich. Ebenso sind in den literarischen Verlagen Bücher von Frauen unterrepräsentiert. Deshalb untersuchten die Literaturwissenschaftlerinnen Berit Glanz und Nicole Seifert die Verlagsvorschauen für das Frühjahrsprogramm 2020 auf Geschlechtergerechtigkeit. Mit dem Hashtag #vorschauenzählen riefen sie auf Twitter dazu auf, die Programme auszuwerten. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie in einem Artikel im »Spiegel«: Das Verhältnis von Autorinnen zu Autoren liegt bei insgesamt 40:60. Doch was bei ihrer Untersuchung auffiel: Je prestigeträchtiger der Verlag ist, desto weniger Frauen sind im Frühjahrsprogramm. Demnach ist bei großen und bekannteren Verlagshäusern das Ungleichgewicht von Autorinnen und Autoren besonders groß.

Die Studie »Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb« des Forschungsprojektes »Frauen zählen« wertete 2036 Rezensionen und Literaturkritiken im März 2018 aus. Das Fazit: Frauen sind in Medien und im Literaturbetrieb nicht nur weniger vorhanden, sondern auch weniger sichtbar als Männer. Denn Autoren werden - mit Ausnahme von Frauenzeitschriften - häufiger besprochen als Autorinnen. Insgesamt zwei Drittel der besprochenen Bücher wurden von Männern geschrieben. Nicht nur Autoren, sondern auch Kritiker dominieren den literarischen Rezensionsbetrieb: Kritiken werden überwiegend von Männern (im Verhältnis 4 zu 3) verfasst. Und Kritiker besprechen in der Mehrheit (75 Prozent) Bücher von Männern. Kritikerinnen hingegen besprechen Autorinnen sowie Autoren verhältnismäßig in ähnlicher Häufigkeit.

Dass Frauen im Literaturbetrieb unterrepräsentiert sind, hat laut von Senger viele Faktoren. Beginnend bei gesellschaftlichen Hürden, etwa, dass es Frauen nicht zugesprochen wird, schreiben zu können, über fehlendes Selbstbewusstsein bis hin zu den männlich geprägten Strukturen an den Schreibschulen. Ein weiterer Faktor sei, dass Autorinnen aus der Vergangenheit vergessen sind, weil sie kaum in der kollektiven Erinnerung aufbewahrt wurden. Das könne man daran erkennen, dass es weniger Gesamtausgaben von Autorinnen gebe und weniger Doktorarbeiten über sie geschrieben werden.

Von Senger möchte mit »She Said« dazu beitragen, dass die Texte von Autorinnen aus vergangenen Jahrhunderten lebendig gehalten werden. Ihr großes Ziel ist, nicht mehr lieferbare Bücher von vergessenen queeren und weiblichen Autor*innen in der Zukunft neu zu aufzulegen. Damit will sie in Vergessenheit geratene Stimmen wieder lesbar machen.

Buchhandlung »She Said«, Kottbusser Damm 79, Berlin. Online: www.shesaid.de

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