Die Stunde des Leviathan

Jetzt kommt der »harte Lockdown«, zuerst in Sachsen.

  • Johannes Hauer
  • Lesedauer: 5 Min.

Ab Montag geht Sachsen als erstes Bundesland wieder in den »harten« Lockdown. Schulen, Kitas und nicht lebensnotwendige Geschäfte sollen bis zum 10. Januar 2021 schließen. In den Leipziger Parks ist schon jetzt eine erhöhte Präsenz der Ordnungskräfte zu beobachten. Eine Freundin berichtet von Bußgeldern für ein Picknick. Fünf Menschen aus vier Haushalten stellen eine unzulässige Gruppenbildung dar, was mit insgesamt 750 Euro zu Buche schlägt.

Schon während des ersten Lockdowns im Frühjahr patrouillierten Ordnungshüter per Fahrradstreife über die Leipziger Grünflächen und nahmen - im Dienste des Kontaktverbots - regen Kontakt mit Missetätern auf. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie zwei Beamte in hoch sichtbaren Neonwesten eine junge Mutter mit Kinderwagen verscheuchten, die sich auf einer Parkbank ausruhte. In Wien hat damals ein Wohnungsloser ein Bußgeld über 3600 Euro erhalten, da er sich unerlaubt in einem Park aufhielt, wie der Journalist Michael Bonvalot auf seiner Website berichtete. Bonvalot zitierte auch eine »57-jährige Wienerin«, die von der Polizei beim Lesen auf einer Liegewiese am Donaukanal erwischt wurde und sich dann anhören musste, sie sei »rücksichtslos, verantwortungslos (...) egoistisch und selbstverliebt«.

Sind das Individuen, die nach Freiheit dürsten, und ist das ein Staat, der sie unterdrückt? Der Rückgriff auf die klassische Repressionshypothese ist verlockend. Das Resultat ist dann jedoch libertärer Kitsch, der der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Treffend beschrieb der Philosoph Alberto Toscano in einem Blog ein »weitverbreitetes Begehren nach dem Staat«, das er im Frühjahr wahrgenommen hatte. Es zeigte sich in der »Forderung, dass die staatlichen Autoritäten schnell und effektiv handeln« und darüber hinaus »diejenigen rasch bestrafen, die unvorsichtiges oder gefährliches Verhalten an den Tag legen«.

In diesen Zusammenhang gehört die Empörung über frivole »Corona-Partys« zu Beginn der Pandemie. Mittlerweile ist von einem »Glühwein-Strich« die Rede, wobei der Subtext sexueller Devianz kaum zu überhören ist. In den dazugehörigen Erzählungen entsteht die gesellschaftliche Krise durch das freie Walten zerstörerischer Leidenschaften. In dieser Situation scheint die politische Philosophie von Thomas Hobbes aus dem 17. Jahrhundert wieder populär zu werden. Der englische Staatstheoretiker war der Auffassung, die auf sich selbst gestellten Menschen produzierten nur selbstsüchtig Chaos und Verderben. Doch zum Glück gibt es einen Souverän, der zwischen ihnen Ordnung schafft. Mag der Verstand einiger auch zu trübe sein, um es selbst einzusehen, so entspricht die Einschränkung ihrer Freiheit letztlich auch ihrem eigenen, wohlverstandenen Interesse nach Selbsterhaltung. Für Hobbes war der Staat der Leviathan, ein Symbol für eine höhere, gerechte Ordnung. Und auch jetzt spielt der Staat wieder seine Paraderolle: Er verkörpert eine höhere Vernunft, überblickt die Lage nüchtern und schützt das Leben aller. Oder etwa nicht?

Tatsächlich drängt sich die Frage nach dem virologischen Sinn der genannten Maßnahmen auf, vor allem, wenn es sich um Zusammenkünfte an der frischen Luft handelt, wo Ansteckungen recht unwahrscheinlich sind. Bei solchen Maßnahmen geht es auch um etwas anderes. Im Lockdown wird der öffentliche Stadtraum zur gut einsehbaren Bühne, auf der der Staat seine Handlungsmacht zur Schau stellt. Aufgeführt wird ein Spektakel der Sicherheit: Seht her, wir haben alles im Griff! Trotzdem gibt es jede Woche Tausende Tote.

Interessant ist es daher, die Grenzen der staatlichen Kontrolle in den Blick zu nehmen. Im Lockdown dürfen sich nur Menschen aus zwei Haushalten treffen, »dritte Orte« wie Cafés oder Bibliotheken müssen schließen. Wo Ausgangsbeschränkungen gelten, darf nur noch in »Ausnahmen« das Haus verlassen werden, etwa für Spaziergänge, zum Einkaufen oder für die Arbeit. Dieses kurze Wörtchen »Arbeit« steht ganz unschuldig in den Aufzählungen, irgendwo zwischen Gassigehen und dem Wocheneinkauf. Dabei bringen der Arbeitsplatz sowie An- und Abfahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln ungezählte Kontakte zu Menschen fremder Haushalte mit sich, und das zumeist in geschlossenen Räumen. Der neuerliche Lockdown ändert hier nichts.

Das Desinteresse der bürgerlichen Öffentlichkeit an dieser Lebenswirklichkeit hat System. Marx kontrastiert im »Kapital« die Zirkulationssphäre als »geräuschvolle, auf der Oberfläche hausende und aller Augen zugängliche Sphäre« mit der Fabrik als »verborgne Stätte der Produktion« - Eintritt nur in Geschäftsangelegenheiten. Das Privateigentum strukturiert die Arbeitswelt als ein Archipel nicht öffentlicher Domänen, die von der Allgemeinheit abgeschirmt werden. Zäune, fensterlose Fassaden, Werkschutz und Kameraverbote sichern einen Zustand, in dem der Betrieb »Arkanbereich« ist, wie Oskar Negt und Alexander Kluge 1978 in ihrer Studie »Öffentlichkeit und Erfahrung« gezeigt haben.

Die bei der Arbeit gemachten Erfahrungen werden in der bürgerlichen Öffentlichkeit generell kaum repräsentiert. In der Pandemie geht die »geräuschvolle« Skandalisierung von Dreiergruppen im Park mit permanenten Großveranstaltungen in der »verborgenen Stätte der Produktion« einher.

Es handelt sich hierbei um ein gesellschaftliches Wahrnehmungsmuster, eine spezifische »Aufteilung des Sinnlichen« (Jacques Rancière), durch das die bestehende Gesellschaftsordnung mit ihren Hierarchien und Trennungen stabilisiert wird. Der französische Philosoph fasst die Gesamtheit der Vorgänge, durch die eine Gesellschaft ihre Mitglieder bestimmten Orten, Tätigkeiten und Wertigkeiten zuweist, als »Polizei«. Die herkömmliche Polizei mit ihren Gummiknüppeln und Uniformen ist dabei nur die »niedere Polizei« und der sichtbarste Teil dieses Systems. Die »Polizei« im übergeordneten Sinne ist dagegen eine »Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren, die dafür zuständig ist, dass diese Tätigkeit sichtbar ist und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird und jenes andere als Lärm«, schreibt Rancière 2002 in seinem Buch »Das Unvernehmen«. Es ist dies ein Prozedere zur Verteilung von Aufmerksamkeit, Legitimierung und Beteiligung.

Die Schikanen der »niederen Polizei« im Park werden bei der Eindämmung der Pandemie kaum Erfolge zeitigen. Überaus erfolgreich ist dagegen die Polizei im übergeordneten Sinne. Indem sie »aus dem Arbeitsplatz einen privaten Raum macht, der nicht von den Weisen des Sehens und des Sagens regiert wird, die dem eigen sind, was man öffentlichen Raum nennt« (Rancière), entzieht sie die Sphäre der Produktion den Eingriffen der Gesellschaft auch inmitten einer verheerenden Pandemie. Drei Menschen in einem Park sind ein öffentliches Ärgernis, 3000 Menschen in einer Fabrik sind Privatsache.

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