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Geheime Vernehmung der Vertrauensperson 01

Eine Aussage im Bundestag war lange verweigert worden. Überraschend fand heute die Vernehmung statt.

»Undercover - Ein V-Mann packt aus« - der Buchtitel, den ein Bild auf Twitter zeigt, das der Abgeordnete Benjamin Strasser (FDP) am Freitag morgen postete, verheißt einen Erfolg für den Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag. Lange hatte man darum gekämpft, Murat Cem, der als Vertrauensperson 01 nah am Attentäter Anis Amri dran war, vernehmen zu dürfen. Doch das Innenministerium in Nordrhein-Westfalen mauerte und gab eine Sicherheitsgefährdung als Grund an.

Cem, der lange Zeit durch das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen im Rahmen von verdeckten Ermittlungen eingesetzt wurde, ist umstritten. Ein Autorenteam des »Spiegel« hatte sich für die Berichterstattung und das Buch mehrfach mit Cem getroffen, der freimütig über seine Erfolge berichtet hatte. Rund 20 Jahre lang war er als Vertrauensperson tätig. Problematisch: Eine solche Tätigkeit darf nicht als Haupteinnahmequelle der Lebensführung dienen. Der Eindruck, den Cem im biografisch anmutenden Werk vermittelt, wirkt anders.

Cem flog nicht zuletzt durch Probleme in der Kommunikation der Landeskriminalämter in Berlin und Nordrhein-Westfalen auf. Eine auf Drängen der Berliner Polizei erfolgte, telefonische Nachfrage Cems und die anschließende Kontrolle an einem Busbahnhof sorgten bei Anis Amri für Misstrauen. Mittlerweile lebt Cem in einer Art Zeugenschutzprogramm. Obwohl Ermittler aus NRW die Leistungen Cems in den Untersuchungsausschüssen immer wieder lobten, gibt es auch eine andere Sicht auf Murat Cem. Polizeikreise sehen die Methoden der VP-01 kritisch und an der Grenze zum Agent Provocateur, der durch seine Kontakte und Gespräche potenzielle Straftaten eher befördern, statt verhindern würde.

Im Buch »Undercover« wirken die Methoden mit denen Cem Nähe zu Verdächtigen aufbaute effektiv, aber auch fragwürdig. Zeitweise flossen Geldmittel in Drogen und Prostitution, ohne nennenswerte Ermittlungserfolge zu produzieren.

Idealer Zeitpunkt

Die unangekündigte geheime Sitzung, die an diesem Freitag stattfand, kann als Vorbereitung der nächsten Zeugenaussagen gesehen werden. Insbesondere der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), der am kommenden Donnerstag aussagen wird, ist seit vergangenem Jahr mit Murat Cem verknüpft. Grund dafür ist die Aussage des NRW-Ermittlers R.M., der als Leiter der Einsatzkommission Ventum mit Murat Cem arbeitete. R.M. hatte im November 2019 ausgesagt, ein Vertreter des Bundeskriminalamtes, Philipp Klein, habe ihn Monate vor dem Attentat in einem Vieraugengespräch unter Druck gesetzt. Die Quelle Cem liefere zu viele Hinweise die sich nicht bewahrheitet hätten, hieß es vom erfolgreichen BKA-Beamten Klein. Das sorge für Unmut auf der politischen Ebene. Klein habe den Eindruck vermittelt, es gäbe eine Anweisung aus der politischen Leitungsebene des Bundesinnenministeriums. R.M. notierte sich im Februar 2016 die Buchstaben »TdM«, erinnerte sich im Nachgang aber nicht mehr, ob er die Person Thomas de Maizière damit bezeichnete oder die Führungsebene allgemein.

Murat Cem hatte seit Ende 2015 mehrfach Kontakt zum späteren Attentäter Anis Amri und warnte vor dessen Entschlossenheit, einen Anschlag zu begehen.

»Die VP01 war nicht nur sehr nah an Amri, sondern hatte direkten Zugang zu vielen Personen eines europaweit agierenden dschihadistischen Netzwerkes«, sagte Martina Renner (Linke) am Freitag dem »nd«. Renner kritisiert, dass die Quelle VP-01 nicht genutzt wurde. »Die erlangten Informationen hätten den Ermittlungsbehörden die Möglichkeit gegeben, den Anschlag am Breitscheidplatz möglicherweise frühzeitig zu verhindern.«

Irene Mihalic (Grüne) bestätigt die Wertigkeit der Quelleninformationen. »Der Zeuge hat unsere Sicht bestätigt, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass Amri den Anschlag ohne Mitwisser oder Unterstützer verübt hat.« Mihalic sieht nach der Aussage eine Bestätigung für eine mögliche Mittäterschaft von Bilel ben Ammar, der am Vorabend der Tat noch Kontakt zu Anis Amri hatte und auch am Tattag versuchte, telefonisch Kontakt aufzunehmen.

Nach der Aussage der VP-01 Murat Cem sei klar, dass Amri seit dem Frühjahr 2016 ein enges Verhältnis zu Bilel ben Ammar unterhalten hat. »Das untermauert noch einmal, wie wahrscheinlich mindestens eine Mitwisserschaft Ben Ammars zum Anschlag ist«, sagte Mihalic dem »nd«. Die Anfang 2017 erfolgte Abschiebung bezeichnet Mihalic als voreilig und »extrem fahrlässig.«

Benjamin Strasser (FDP) forderte nach der Vernehmung neue Regelungen für den Einsatz von Vertrauenspersonen durch die Polizeibehörden. »Dieser V-Mann wurde über Jahre fast wie ein Mitarbeiter des LKA NRW und nicht wie eine externe Quelle geführt. Sowas kann nicht sein«, sagte Strasser.

Beim Anschlag auf den Breitscheidplatz waren am 19. Dezember 2016 insgesamt 12 Menschen getötet und mindestens 67 zum Teil schwer verletzt worden.

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