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Auch nach Jahrzehnten nur geduldet

In Deutschland finden selbst in der Pandemie Abschiebungen statt. Das kann auch Pflegekräfte treffen

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit sie zwei Jahre alt ist, lebt Farah Demir in Deutschland. Heute ist sie 36 und arbeitet an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) als Fachpflegekraft für Intensivpflege auf der Covid19-Intensivstation. Sie absolvierte dafür eine fünfjährige Ausbildung. Demir ist »systemrelevant« - und ausreisepflichtig. 1986 kam sie mit ihrer Familie aus dem Libanon nach Deutschland. »Ich bin ein Kriegskind,« sagt sie dem »nd«. Ihre Geburtsurkunde wurde nicht amtlich bestätigt. In Deutschland wurde diese zunächst trotzdem von der Ausländerbehörde anerkannt, erzählt sie.

Familie Demir bekam einen Staatenlosenpass und eine Niederlassungserlaubnis. Mit dem Wechsel ihrer Sachbearbeiterin bei der Ausländerbehörde wurde ihnen diese aberkannt. 2006 sei bei dort ein Dokument aufgetaucht, das die ganze Familie als türkische Staatsbürger ausweist, erzählt Demir. Ihnen wurde Identitätsfälschung vorgeworfen. Dem Dokument fehle jedoch Siegel und Unterschrift, die Türkei erkennt es nicht an. Ihre Duldung und die ihrer Eltern und Geschwister wurde seither trotzdem immer nur wochen- oder monateweise verlängert. Kinder hat Demir nicht: »Ich möchte die Duldung nicht vererben,« sagt sie dem »nd«. Obwohl Farah Demir in einem systemrelevanten Beruf arbeitet - die Einwanderung von Pflegekräften wird in Deutschland gefördert - wurde ihr nun angedroht, ihr die Arbeitserlaubnis zu entziehen und sie gegebenenfalls in Sicherheitshaft zu nehmen. Der Brief liegt »nd« vor. Nach ihren Forderungen gefragt antwortet Demir: »Sie sollen aufhören, mich und meine Familie zu jagen. Wir haben nichts angestellt.« Wie die HAZ berichtete, äußert sich die Ausländerbehörde Hameln aus Datenschutzgründen nicht öffentlich zu dem Fall.

Ihr Arbeitgeber und die Gewerkschaft Verdi unterstützen Farah Demir und haben eine Petition gestartet, die eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung für Demir und Migrant*innen in systemrelevanten Berufen fordert, fast 11 000 Menschen hatten am Sonntag bereits unterschrieben. Thilo Jahn, Gewerkschaftssekretär von Verdi Hannover-Heide-Weser sagt: »Ihr keine verbindliche Aufenthaltsperspektive zu geben und sie mit der dauerhaften Trennung von Freund*innen und Familie zu bedrohen, empfinde ich als menschenverachtend. Für mich ist das institutioneller Rassismus. Hier ist das besonders absurd, denn wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Pflegekräfte wie Farah Demir, nicht nur an der MHH.«

Farah Demir ist kein Einzelfall. Über 220 000 Menschen in Deutschland waren nach einer Auflistung der Bundesregierung vom Juni 2020 geduldet. Das bedeutet, dass sie juristisch ausreisepflichtig sind, die Ausreisepflicht aber nicht durchgesetzt wird. Das kann verschiedene Gründe haben, sei es eine körperliche oder psychische Erkrankung, schulpflichtige Kinder, eine Ausbildung oder Beschäftigung oder Krieg im Herkunftsland.

Für viele Menschen ist dieser unsichere Status über viele Jahre Realität. Kettenduldung heißt das umgangssprachlich. Über 130 000 der Geduldeten lebten mehr als drei Jahre in Deutschland, über 30 000 mehr als sechs und rund 10 000 mehr als 15 Jahre. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl erklärt, dass es für Geduldete aufgrund hoher gesetzlicher Hürden sehr schwer ist, einen dauerhaften Aufenthaltstitel zu erhalten. Eine Aufenthaltserlaubnis z.B. für eine Beschäftigung bekomme man meist nur, wenn man bereits mit einem entsprechenden Visum eingereist ist. Ein »Spurwechsel« sei nicht erwünscht.

In Magdeburg sorgte in der vergangenen Woche die Abschiebung einer jesidischen Familie aus Armenien für Aufregung. Die Mutter lebte seit 22 Jahren in Deutschland, ihre vier Kinder sind hier geboren und aufgewachsen, die drei älteren gehen zur Schule. In der Nacht zum 8. Dezember wurde die Mutter mit den zwei jüngeren Kindern nach Armenien abgeschoben. Die älteren sind während der versuchten Abschiebung geflüchtet und untergetaucht, der Vater in einem schlechten psychischen Zustand. So erzählt es Robert Fietzke, Vorstand vom Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt. Die Familie war, so die Stadt Magdeburg auf »nd«-Nachfrage, seit zehn Jahren ausreisepflichtig. Die Ausreisepflicht sei jedoch aufgrund einer Identitätsfälschung nicht umgesetzt worden.

Es gab indes weitere Gründe, die Familie nicht abzuschieben: Die psychische Erkrankung der Mutter, die Schulpflicht der Kinder. Im nächsten Jahr wird die älteste Tochter 14 und könnte somit einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis stellen. Fietzke sieht darin einen möglichen Grund für die nun durchgesetzte Abschiebung in das Land, in dem kürzlich noch Krieg herrschte. Besonders skandalös ist, dass ein Polizeibeamter laut Augenzeugenberichten eine Waffe auf die umstehenden Unterstützer*innen der Familie richtete. Dem »nd« liegt ein Video vor, das diese Berichte stützt. Die Polizei Magdeburg erklärte gegenüber dieser Zeitung, dass »nach vorliegenden Erkenntnissen während der Maßnahmen zur Abschiebung« der Familie »durch die Einsatzkräfte weder Schusswaffen angewendet noch ihr Gebrauch angedroht wurden«.

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Obwohl Pro Asyl schon im März 2020 gefordert hatte, wegen der Corona-Pandemie alle Abschiebungen auszusetzen, wurden in den vergangenen Monaten immer wieder Menschen »zurückgeführt«. Fietzke erklärt: »Wir sehen natürlich alle Abschiebungen kritisch, aber angesichts der Pandemie ist das eine besondere Härte. In Armenien darf derzeit nur einreisen, wer einen negativen Test vorlegt. Doch im Zusammenhang mit Abschiebungen ist die Pandemie offenbar nicht existent.« Abschiebungen fänden meist im Verborgenen statt, nachts, nur die wenigsten Betroffenen haben ein Unterstützernetzwerk. So wird darüber auch nur wenig öffentlich. Fietzke sagt: »Solche Abschiebungen sind die Regel, keine Einzelfälle.« Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt beobachtet einen rigoroseren Umgang mit Härtefällen und der Durchsetzung von Abschiebungen. »Der Verdacht liegt nahe, dass das mit dem langen Schatten des Wahlkampfs zu tun hat,« so Fietzke. Diesen Eindruck teilt auch Günter Burkhardt von ProAsyl: »Man hat den Eindruck, dass seitens der abschiebewilligen Innenbehörden derzeit Abschiebungen forciert werden - ungeachtet der Pandemiesituation.«

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