Was bleibt, wenn das Stadion leer ist?

Das Jahr 2020 stellte auch die 68 Fanprojekte in Deutschland vor schwierige Aufgaben

  • Olek Meyer
  • Lesedauer: 5 Min.

2020 im Fußball: Während die Stadien leer und die Fankneipen geschlossen waren, wurde über die Systemrelevanz jedweden Berufs diskutiert. Was Profifußballer*innen anbetrifft, herrschte Einigkeit: Sie sind im Seuchenfall verzichtbar. Dennoch gibt es in Deutschland Millionen Menschen, für die Fußball das Leben ist. Sie sind systemrelevant für den Fußball. Ohne sie würde es in den Stadien niemals so authentisch, geschweige denn atmosphärisch sein.

In Zeiten von Quarantäne und Isolation haben sich die Lebensumstände für viele dieser Menschen aber drastisch geändert. Da ihre persönlichen Netzwerke rund um den Fußball geknüpft sind, hatte die Isolation vor allem Auswirkungen auf ihr Sozialleben. Normalerweise bestimmte der Fußball den Alltag. Doch was bleibt übrig, wenn plötzlich alle Spiele wie im Frühjahr ausfallen und damit das soziale Umfeld komplett wegbricht?

Vorrangig junge Fans wurden normalerweise von Sozialarbeiter*innen in Fanprojekten im Alltag begleitet. Das waren offene Angebote, die durch den Lockdown nicht mehr stattfinden konnten. Die Umstellung von der persönlichen Arbeit zu digitalen Angeboten ging jedoch beispielsweise im Fanprojekt Babelsberg rasend schnell. Man war ohnehin über verschiedene Medien gut untereinander vernetzt, wie die Einrichtung berichtet. Die Nutzung der sozialen Netzwerke wurde beim FC Carl Zeiss Jena sogar verstärkt. Großen Anklang bei den Fans erfuhren der virtuelle Rundgang durch das Stadion oder die Reise in die Geschichte des Vereins. Das Fanprojekt Halle organisierte Talkshows mit Vertreter*innen des Vereins: mit Vorstandsmitgliedern, aber auch mit dem Vorsänger der Ultras. In Münster und Meppen klärte man über Desinformation und Fake-News rund ums Thema Corona auf. Online-Kochen, gemeinsam online Fifa an der Konsole zocken oder bei einem Bundesliga-Quiz das Wissen testen, waren wöchentliche Angebote der diversen Fanprojekte.

Die sozialpädagogische Arbeit ging schon vor der Pandemie über Gewaltprävention im Rahmen der Stadien weit hinaus: Lesungen zu Büchern über die Fankultur, Fahrten zu Gedenkstätten von Konzentrationslagern, freie Wände zum Graffiti-Sprühen oder gemütliche Ecken zum Quatschen. Die gesellschaftliche Rolle des Fußballs ist längst anerkannt. Seit den 90er Jahren entwickeln Kommunen und Fußballverbände sozialpädagogische Konzepte, um einen szenenahen Zugang zu den Fans zu gewährleisten. Mittlerweile gibt es 68 Fanprojekte in ganz Deutschland, deren Aufgabe vorrangig darin besteht, Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer Passion als Fan zu begleiten.

Für die Mitarbeiter*innen der Fanprojekte war Corona eine Herausforderung, weil sich auch für sie etwas Elementares änderte: Die Fans kamen nicht mehr wie gewohnt zu ihnen in die Räume, stattdessen mussten sie sich selbst bemühen, mit den Fans in Kontakt zu kommen: sie anrufen, anschreiben, einladen. Das schildert auch Marcel Gries, Sozialarbeiter im Fanprojekt »Fullestadt« aus Kassel: »Wir mussten vor allem auch selbst sichtbar bleiben und den Kontakt zu den Leuten halten.« Ohne die wöchentlichen Spiele in den Stadien drohte das Vertrauensverhältnis und die Nähe zu den Fans verloren zu gehen.

Für den Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS), Michael Gabriel, bestand die Priorität anfangs darin, »arbeitsfähig zu bleiben und auf keinen Fall Mitarbeiter*innen der Fanprojekte in Kurzarbeit verweisen zu müssen«. Aufgabe der KOS ist es, beim Aufbau neuer Fanprojekte zu helfen. Sie steht in engem Kontakt mit den bestehenden Fan-Einrichtungen sowie den Geldgebern Deutscher Fußballbund (DFB), Deutscher Fußball Liga (DFL) und staatlichen Instanzen. »In Zusammenarbeit mit dem ganzen Netzwerk, also sowohl den Vertreter*innen der Kommunen und Länder, als auch den Fußballverbänden, war klar, dass die Fanprojekte weiterarbeiten sollen«, berichtet Gabriel.

Als die Stadien zwischenzeitlich wieder besucht werden konnten, mussten sich alle zudem an die neuen Hygienemaßnahmen halten. Vor allem das Singen und Trommeln war verboten. Unter diesen Beschränkungen habe es wenig Fans der Szene auf die Ränge verschlagen, berichtet Matthias Stein, Leiter des Fanprojektes in Jena: »Unter diesen Bedingungen war das für die Fans keine geeignete Veranstaltung, es entsprach einfach nicht der Vorstellung von Fankultur.« Sein Kasseler Kollege Gries bekräftigt, dass die Fans lieber »Verantwortung gezeigt haben« statt sich zum Beispiel vor Stadien zu versammeln oder in der Kurve präsent zu sein.

Als vereinzelt wieder Stadionbesuche erlaubt waren, wurden auch die Kontaktbeschränkungen außerhalb entschärft. Endlich konnte eine Pause vom digitalen Alltag genommen werden, berichtet das Fanprojekt Babelsberg. Die vielen Qualitäten des realen Miteinanders wahrnehmen: beispielsweise mit einem Darts-Turnier auf offener Straße oder Graffiti-Workshops in den Vereinsräumen. In Kassel fuhr man gemeinsam Kanu, in München trafen sich Fans und Fanprojektmitarbeiter*innen auf ein Kaltgetränk im Park, und in Jena spielten die Anhänger*innen ein Fußballturnier. Ein wenig Normalität kam auf.

Als im Herbst die Infektionszahlen wieder stiegen, musste die Fanarbeit aber erneut ins Internet verlegt werden. Dabei immer wieder auf neue attraktive Ideen zu kommen, sei manchmal schwer gewesen, sind sich die Fanprojekte einig. Auch hätten im Vergleich zum ersten Lockdown weniger Fans die Angebote wahrgenommen.

Im Moment arbeitet die Koordinationsstelle an einer Broschüre, die verschiedene Ideen und Alternativen während der Coronazeit abbildet. Zudem ist die Kommunikation gegenüber ihren Geldgebern ein großes Interesse der KOS. Denn finanziert werden die Fanprojekte durch die DFL für die ersten beiden Profiligen bzw. durch den DFB für die unteren Klassen, sie übernehmen zusammen die Hälfte der zu Verfügung gestellten Mittel. Die andere Hälfte trägt das jeweilige Bundesland.

Im September allerdings raubte der DFB den Fanprojekten der 3. Liga bzw. der Regionalligen eben jene finanzielle Sicherheit. Bis 2022 will der Verband die Projekte noch uneingeschränkt weiterfördern, dann soll in einem »Reformprozess« über zukünftige Investitionen entschieden werden.

Besonders bei vielen Fanprojekten aus den unteren Ligen lösen diese Pläne Unverständnis aus - vor allem, weil alle anderen Kooperationspartner wie Kommunen und Länder von der Fanarbeit überzeugt sind. Erst im November konnte die KOS 60 Fanprojekte mit einem Qualitätssiegel auszeichnen. Die Parameter dafür entstanden in Zusammenarbeit mit den Fußballverbänden, den Ländern und den Projekten selbst.

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