Wann hört das endlich alles auf ...

... und wie soll es weitergehen? Was unter Corona links sein könnte.

  • Thomas Rudhof-Seibert
  • Lesedauer: 9 Min.

Eine Chance verpasst zu haben, kann verschmerzt werden, wenn die nächste genutzt wird. In Sachen Corona hat die Linke ihre erste Chance verpasst, sehen wir also zu, dass das nicht noch einmal passiert. Das Missgeschick dankt sich zwei Gründen. Erstens hat Corona auch uns überrascht, auch uns das Fürchten gelehrt. Der zweite Grund folgte aus dem ersten. Wer überrascht ist und sich fürchtet, wird sich zunächst an Routinen halten. Das ist passiert.

Fürchtet Euch (nicht)

Thomas Rudhof-Seibert
Thomas Rudhof-Seibert, geb. 1957 in Rüsselsheim, ist Philosoph, Autor und Aktivist. Er arbeitet als Menschenrechtsreferent für medico international und ist Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne. 
2017 erschien von ihm »Zur Ökologie der Existenz. Freiheit, Gleichheit, Umwelt« (Laika Verlag, 472 S., brosch., 29 €.)

Linke Routine ist die Kritik des Neoliberalismus, ihre Bewährung am drastischen Einzelfall und, im Gegenzug, das Stellen der »richtigen« Forderungen. Natürlich beweist uns Corona die gemeingefährlichen, zuletzt tödlichen Folgen der Privatisierung der Gesundheitsfürsorge wie aller anderen öffentlichen Güter. Natürlich wird die Krise auf dem Rücken der Leute ausgetragen, voran auf dem der prekären Arbeits- und Pflegekraft. Und ja, bleibt alles beim Alten, werden die Leute für die Krisenbewältigung bluten müssen. Wenn der Virus biologisch alle trifft, trifft er dennoch nicht alle in der gleichen Weise. Ja, die soziale Spaltung! Jetzt ist alles klar: Wir sind auf unserem Spielfeld, dem der »sozialen Frage«. Löhne rauf, Arbeit sichern, soziale Spaltung überwinden. Die Reichen sollen zahlen. »Merkel versagt!« Und, ja: »Solidarität!« Und die wurde dann nicht nur gegen »die da oben« eingefordert, sondern von ausnahmslos allen. Auch von denen, die sich dem Durchgriff des Corona-Regimes zu entziehen suchten: der Einschränkung der freien Bewegung, der Einschränkung der freien Begegnung, dem Verbot der freien Versammlung. Die Maske ist links, und die Linke staatlicher als der Staat. Weh denen, die … Liberalismus, Individualismus, Egoismus, pah, die Freiheit: bürgerlich!

Die Ruhe vor dem Lockdown

Vieles daran ist irgendwie richtig. Grundfalsch aber war, dass sich die Linke wieder aufs Einfordern des »Sozialen« fixierte, und das in einer Situation, wo es aufs Stellen ihrer so richtig-richtig linken Forderungen gar nicht ankam. Denn dem zur harten Grundrechtseinschränkung wie zum doppelten Durchgriff auf den Gesellschaftskörper und das Verhalten der Einzelnen ermächtigten Neoliberalismus kam es auf eines mit Sicherheit nicht an: auf Forderungen der Linken. Zumal nicht, wenn sie eh schnell Konsens waren: ja, es fehlt an Pfleger*innen, die brauchen Anerkennung und ja, die muss sich auszahlen. Falsch aber vor allem deshalb, weil die Linke in der Routine ihres Forderns unterließ, was sie stattdessen hätte tun können. Damit verpasste sie die Chance, die sich ihr (und allen) bot: die Chance, die im Überrascht-und-in-Furcht-versetzt-werden lag.

Tatsächlich machte sich im ersten Lockdown eine geradezu gebannte Ruhe breit. Viele nahmen sie als Gelegenheit wahr, Fragen eigens nachzugehen, die sich in der Überraschung, im Aufkeimen der Furcht, in der Unterbrechung des Diskurslärms und mehr noch in der Unterbrechung des gesamten Weltlaufs zu Gehör brachten. Es waren (und sind) primär zwei Fragen, die erst im Feuilleton, bald in den Nachrichten und allerorts in ungezählten Alltagsgesprächen gestellt wurden: die Frage nach der Welt, wie sie ist und sein soll, und die Frage nach der Veränderung der Welt wie des Lebens im Ganzen. Zwei weitere traten bald hinzu: die Frage nach Gleichheit und Freiheit, und die Frage nach dem Unterschied von Überleben und Leben. Alle vier hätten von links ausgearbeitet und zusammengebracht werden müssen. Ihnen hätte öffentlich Raum geschaffen werden müssen, in einer Sprache, die nicht die des Stellens einzelner Forderungen und des Vorbringens von Anschuldigungen anderer hätte sein dürfen. In einer Sprache, die die Fragenden - uns alle - mit infrage gestellt hätte.

Corona global, Corona imperial

Die erste Frage glitt schnell in eine Feststellung über, aus der sie vertieft wieder zur Frage wurde. Ist Corona, so lautete sie bündig, eine Krankheit der Globalisierung, eine Krankheit der Welt, die Krankheit einer kranken Welt? Eine Krankheit der globalen Herstellungs-, Liefer- und Verkehrsketten, der Arbeits-, Kapital- und Warenströme, auch der vielfältigen Bewegungen des Reisens in alle Richtungen? Ja, lautete ebenso bündig die Antwort. Ist Corona also eine Krankheit der kapitalistischen, wenigstens der neoliberalen Globalisierung? Auch hier herrschte breit Konsens: ja. Ist Corona also auch eine Krankheit unserer Lebensweise, der des globalen Nordens, nicht nur der der Reichen, sondern unserer, deiner und meiner Lebensweise?

Eine Krankheit der imperialen Lebensweise - hätten viel mehr Linke sagen können und müssen, in Frageform, gesprächsoffen. Geht es also nicht bloß um ein Virus, sondern eigentlich - um die ganze Welt, die Welt, wie sie ist? Wollen wir, dass sie so bleibt, wie sie ist? Oder wollen wir, sollten wir nicht - eine andere Welt schaffen, die für alle überall sicher und zugleich der Raum der Freiheit einer jeden wäre? Die Frage blieb nicht so allgemein: Geht’s nur um diesen einen Virus? Drohen nicht gleich mehrere andere, wenn Corona abgewehrt sein sollte? Eben weil es nicht einfach um Viren, sondern um Struktur und Dynamik der Globalisierung geht? Also auch, wieder global, um die Klimakrise, die sowieso alles fluten wird? Das hätte man von links her dann auch detaillieren können, zum Beispiel auf Fragen öffentlicher Güter in einer sozialen Infrastruktur gleich für alle überall - Fragen, die nicht bloß »soziale«, sondern solche des Überlebens und des Lebens sind.

Ums Ganze, ums ganz andere

Nun sind solche Fragen tatsächlich von erschreckender, oft auch lächerlicher Allgemeinheit. Doch hat der Lockdown sie im Handumdrehen »ganz konkret« werden lassen. Jahrzehnte hieß es, dass Globalisierung sein muss und nicht anders sein kann, dass die Arbeits-, Kapital- und Warenströme fließen müssen, die globalen Herstellungs- und Lieferketten nicht wanken dürfen, dass Weltmarkt und Wachstum sein muss.

Und plötzlich war er da, der abrupte Stillstand. Mit Folgen hier bis zum Abwischen des Hinterns, das schwierig wurde, weil das global produzierte Klopapier nicht anlanden konnte. Mit Einkommenslosigkeit und bald darauf Hunger für Millionen Arbeitskräfte der südasiatischen Textilindustrie, die unsere Jeans und T-Shirts nähen: die wurden jetzt nicht genäht oder verblieben in den Häfen. Undenkbar, dass sowas vom einen auf den anderen Tag möglich sein sollte. Jetzt ging’s ratzfatz. Wie vieles andere auch, vom Streichen der Schuldenbremse bis zum Herunterfahren des Alltagskonsumismus. Bis zur Außerkraftsetzung der legislativen zugunsten der exekutiven Strukturierung des Politischen. Bis zur millionenfachen Gewährung sozialer Einkommen. Gefährlich bis hässlich in vielen Fällen: aber doch auch ein Lehrstück über das, was möglich ist, wenn es gewollt wird. Gibt’s wirklich keine Alternative, keine andere Welt, keine - Politik?

Leben und überleben

Mitgestellt mit diesen Fragen war die nach dem Verhältnis von Solidarität und Autonomie, nach Gleichheit und Freiheit. Sie stellt sich gleich auf vielen, zu oft unverbundenen Ebenen, und in unterschiedlichen, auch gegensätzlichen Hinsichten. Leave no one behind: Was genau heißt »no one«, fragt sich jetzt im Blick auf den Impfstoff, also im Blick auf die Inkaufnahme des tausendfachen Sterbens der ungeimpft bleibenden Anderen. Ernst genommen, fragt diese Frage nach dem Ganzen der Welt, nach einer anderen Globalisierung, und sie verkehrt sich dabei immer neu von einer Frage nach der Gleichheit in eine nach der Freiheit - und andersherum, immer im Kreis: weil eine andere Welt anders nicht zu haben ist. So wurde zum »leave no one behind« gefragt: »Und wenn ich gar nicht mitwill, jedenfalls nicht so?«

Die Linken hätten Fragen und Gegenfragen in- und gegeneinander verbinden können. Viele zogen es aber genau an dieser Stelle vor, auf ihre Routinen zurückzufallen und einseitig für das Partei zu ergreifen, was sie unter Solidarität verstehen. Gegen die Fragen nach Freiheit und Autonomie, und unter Abblendung ihres Zusammenhangs. Unter Abblendung ihres Zusammenhangs mit den Fragen nach der Welt, nach dem Ganzen und dem möglichen ganz Anderen. Sie verhakte sich in ihre Einzelforderungen und ihre Anklagen gegen »die da oben«, versteifte sich auf den Kampf gegen die Coronaleugner*innen. Dabei hätte sie das, was Irre und Faschos entstellt im Mund führen, zuletzt aber mit Springerstiefeln zusammentreten, in einem anderen Raum zu einer anderen Sprache bringen können und müssen. Bigott war und ist das, weil die Rechte ihren Raum so nicht hätte einnehmen können, wenn Linke den angeführten Fragen einen anderen Raum eröffnet hätten.

Den Raum etwa einer freien und solidarischen Debatte über die Unterscheidung zuletzt eines »guten« und »wahren Lebens« von einem »bloßen Überleben« und von den Möglichkeiten wie den Gefahren, die dieser Unterschied birgt, auch im Blick auf die Frage: »Wie halte ich selbst es eigentlich mit diesem Unterschied, wenn auch mir das Recht auf freie Bewegung, Begegnung und Versammlung, also auf elementare Bedingungen eines für mich wie für alle guten Lebens, verwehrt wird?« Die Linke hat es dem Konservativen Wolfgang Schäuble überlassen, uns alle daran zu erinnern, dass vor dem bloßen Überleben nicht alles zurückzutreten hat: »Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.« Dabei hätten Linke sagen müssen, dass die Bindung der Freiheit an die Ethik nur dann eine freie Bindung sein wird, wenn sie die Möglichkeit nicht aufhebt, sich im Einzelfall für die »Suspension der Ethik« (Kierkegaard) entscheiden zu können: eine Möglichkeit, mit der es immer dann ernst wird, wenn es um das Leben und eben nicht um das Überleben geht, wenn es also darum geht, diesen Unterschied offen zu halten. Erst vor ihm kommen die Fragen nach Freiheit und Gleichheit in ihr freies Verhältnis. Es hätten wir Linken sein können, nein: müssen, die uns alle daran erinnern.

Zurück zur Normalität?

Die Zeit der Offenheit zu Beginn des ersten Lockdown ist verstrichen und in den nächsten Monaten stellt sich nur eine einzige Frage: »Wann hört das alles endlich auf?« Doch wird, hoffentlich, der Moment kommen, wo alles so aussehen wird, als ob wir mit biopolitischer Genehmigung zur Normalität zurückkehren dürfen. Da werden sich viele fragen: »Das soll’s gewesen sein? Wollen wir das wirklich? Sollten wir nicht …?« Da muss die Linke zur Stelle sein und sagen, dass es eben nicht um diese immer schon elende, für viele immer schon kranke und tödliche Normalität geht. Sondern dass es um eine Welt gehen muss, die kein Schindanger kapitalistischer Ausplünderung, sondern öffentliches Gut wäre, für alle. Eine Welt, in der die Freiheit einer jeden, wie Marx und Engels im Manifest sagen, die Bedingung der Freiheit aller ist. Nicht anders herum, schlagt’s nach und sagt’s weiter.

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