- Politik
- Emergenz
Das Ganze ist anders, als seine Teile
Jeder kennt das Phänomen - und niemand denkt daran: Ein Grundkurs in Emergenz.
Als sportbegeisterter Junge wartete ich einmal im ausverkauften Stadion auf die Ankunft der Friedensfahrer. Die Leute waren Stunden vor der Zielankunft des Radrennens da, um sich gute Plätze zu sichern. Die meisten hatten sich gesetzt, weil langes Stehen ermüdet. Kurz vor dem großen Ereignis erhoben sich nun die Ersten, um besser sehen zu können, wenn das Feld in die Stadioneinfahrt einbog. Sie behinderten dadurch die Sicht der hinter ihnen Sitzenden, die deshalb auch aufstanden. Innerhalb weniger Minuten standen alle Zuschauer. Und das Ergebnis war frappierend: Nun sah keiner besser als vorher im Sitzen.
Was ich als Zwölfjähriger nicht wusste, war, dass man das Problem »Emergenz« nennt - von lateinisch »emergere«, auftauchen oder hervortreten. Emergenz bedeutet, dass auf der Ebene des Ganzen Eigenschaften auftauchen, die seine Teile nicht besitzen. Das Phänomen ist weit verbreitet, auch in der Natur. Natrium und Chlor sind etwa zwei für Menschen giftige Substanzen. Ihre chemische Verbindung ergibt aber kein doppelt so starkes Gift, sondern das relativ harmlose Kochsalz NaCl, Natriumchlorid. Auch die Merkmale des Wasserstoffs und die des Sauerstoffs verschwinden, wenn sich beide Elemente zu Wasser verbinden. Die Eigenschaften des Wassers entstehen erst, wenn sich die Elektronenhülsen der Wasserstoff- und Sauerstoffmoleküle gegenseitig durchdringen. So ähnlich funktioniert auch das Bewusstsein: Es beruht auf neuronalen Prozessen, die selbst über kein Bewusstsein verfügen.
Spätestens seit Niklas Luhmann in den 1980er Jahren ist in Philosophie und Sozialwissenschaft des »Westens« - wieder - viel von »Emergenten Ordnungen« zu hören. In der Ökonomie jedoch, die sich seit genau dieser Zeit kaum noch als Sozialwissenschaft verstehen will, schwindet parallel das Wissen darum, dass das Ganze etwas anderes ist als die Summe seiner Teile. Dabei liegt gerade die Emergenz ökonomischer Makrophänomene gegenüber mikroökonomischen Kalkülen nicht nur auf der Hand, sondern wurde auch schon oft beschrieben.
Schon Aristoteles hielt es für falsch, soziale Phänomene nur als die Summe individueller Handlungen zu begreifen. Verborgene Kräfte und Zusammenhänge bewirkten, dass die Resultate des Handelns mit deren Motiven wenig oder nichts zu tun haben. Max Weber nannte es eine Grundtatsache aller Geschichte, dass das Resultat politischen Handelns »oft in geradezu paradoxem Verhältnis zu seinem ursprünglichen Sinn steht«. So auch Friedrich Engels: »Was jeder Einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, was keiner gewollt hat«, schrieb er einmal an Joseph Bloch.
Die Unternehmen organisieren ihr Tun perfekt, planen pedantisch ihre Vorhaben, organisieren effizient ihre Produktion. Von der Forschung über die Arbeitsvorbereitung und Produktion bis zum Absatz haben sie alles im Griff. Aber ihre mehr oder weniger rationalen Entscheidungen führen zu Chaos, Irrationalität und Willkür in der Volkswirtschaft. Jeder produziert gegen jeden, will der Erste unter vielen sein, will mehr verkaufen als die anderen. Die Konkurrenz und die Jagd nach Profiten stoßen die Volkswirtschaft in Anarchie. Unordnung und Planlosigkeit im großen Maßstab, Verschwendung und Umweltschäden sind die Kehrseite einzelwirtschaftlicher Gründlichkeit.
Konjunkturen, also der Wechsel von Prosperität und Krise, die Zyklen der Industrie, des Handels und des Kredits, sind das Ergebnis des Handelns der einzelnen Wirtschaftsakteure. Doch sind sie nicht von ihnen gewollt. Sie erscheinen »ihnen als übermächtige, sie willenlos beherrschende Naturgesetze, (die) sich ihnen gegenüber als blinde Notwendigkeit geltend machen«, schreibt Karl Marx. Der Widerspruch spitzt sich periodisch zu zwischen dem, was privat produziert, und dem, was gesellschaftlich benötigt wird. Er eskaliert in der Krise, die das Gleichgewicht vorübergehend wiederherstellt, indem sie die Einzelakteure zu Anpassungen an das von ihnen ungewollt herbeigeführte Desaster zwingt. Über das selbstbestimmte, individuelle Handeln setzen sich Zusammenhänge durch, die ähnlich einem Kräfteparallelogramm in der Physik, so Engels, zu gesamtwirtschaftlichen Ergebnissen führen, die vom einzelnen Unternehmen weder gewollt noch voraussehbar sind und in ihrer Gesamtwirkung als fremde Macht den Einzelakteuren gegenüberstehen.
Erhöhen einzelne Unternehmer die Preise, ist das vorteilhaft für sie, sofern die Nachfrage nicht einbricht. Steigen jedoch die Preise aller Waren im gleichen Verhältnis, hat keiner einen Vorteil. Denn was beim Verkauf gewonnen wird, geht beim Kauf wieder verloren. Der Einzelne glaubt, reicher zu werden, indem er spart. Aus Ganzheitssicht stellt sich das Sparen anders dar. Wird zu viel gespart statt konsumiert, sinkt nicht nur die Nachfrage nach Konsumtionsmitteln, sondern auch die nach Produktionsmitteln. Die Produktion geht zurück und Arbeitskräfte werden entlassen. Sparen macht den Einzelnen reicher, die Gesellschaft aber ärmer, wenn alle in großem Umfang auf Konsum verzichten würden.
Unternehmer erzielen höhere Profite, wenn sie kostengünstig produzieren, indem sie die Löhne senken, zumal nur im Ausnahmefall ihre Arbeiter die Produkte kaufen, die sie selbst herstellen. Wäre das anders, würden höhere Löhne für den Kapitalisten die Voraussetzung sein, mehr Produkte verkaufen zu können. Die gestiegenen Löhne flössen in das Unternehmen zurück. In diesem Fall könnten Unternehmer, so wird eingewandt, anstatt höhere Löhne zu zahlen, ihren Arbeitern gleich die Produkte, z. B. Autos, Kaffeemaschinen oder Blusen, schenken. Unlogisch ist das nicht, auch wenn der Begriff »Geschenk« unangebracht ist, denn die Arbeiter haben die Produkte hergestellt.
Doch was für den Betrieb nicht gilt, ist für die Volkswirtschaft richtig: Die Gesamtheit der Bürger kauft die von ihr hergestellten Erzeugnisse, von Ex- und Importen abgesehen. Individuelle Lohnerhöhungen bedeuten für den Betrieb mehr Kosten, erhöhen aber die Nachfrage nach seinen Erzeugnissen in der Regel nicht. Lohnerhöhungen für alle oder viele Beschäftigte einer Volkswirtschaft dagegen können die Nachfrage nach Waren dieser Gesamtheit steigern. Die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Wirkungen scheint der formalen Logik zu widersprechen. Wie können steigende Löhne die Kapitalverwertung verschlechtern und zugleich verbessern?
Die Gegensätze sind vereinbar, sofern man ihre Relativität beachtet. Die sich widersprechenden Aussagen gelten für jeweils andere Beziehungen, einmal für das individuelle, zum anderen für das Gesamtkapital, einmal für die kurze, zum anderen für die »lange« Zeit. Wer sagt, geringere Löhne sind gut für den Unternehmer, hat recht, solange er den Zusammenhang betriebswirtschaftlich, aus der Sicht des einzelnen Produzenten, beurteilt. Er irrt, wenn derselbe Vorgang volkswirtschaftlich, aus der Sicht des Ganzen gesehen wird. Senken alle Unternehmer die Löhne, reduzieren sie die zahlungsfähige Nachfrage. Unternehmer bleiben auf Überschüssen sitzen, erleiden Verluste. Was dem Einzelnen Vorteile bringt, erzeugt Ärger, wenn alle es tun.
Joan Robinson, die kluge britische Ökonomin, nennt es in ihrem großen Werk »The Accumulation of Capital« »ein elementares Paradoxon des Kapitalismus. Jeder Unternehmer für sich genommen zieht aus einem niedrigen Reallohn einen Vorteil, bezogen auf sein eigenes Produkt. Alle Unternehmer zusammen aber werden von einer beschränkten Aufnahmefähigkeit der Warenmärkte betroffen, die aus niedrigen Reallöhnen entspringt.«
Die Werbung ist für kapitalistische Unternehmen unverzichtbar. Jeder kämpft gegen jeden, will ein Stück des Kuchens, lieber ein großes als ein kleines, lieber einen Krümel als gar nichts. Er wehrt sich gegen die anderen, die ihn durch Werbung und Manipulation vom Futternapf verdrängen wollen. Doch gerade auf weitgehend gesättigten Märkten ist Werbung, volkswirtschaftlich gesehen, ohne Sinn, so bitter nötig sie im Kampf ums Goldene Kalb für jeden einzelnen Unternehmer sein mag. Denn absetzen insgesamt wird man allenfalls die Menge, mit der die Nachfrage befriedigt werden kann, egal, ob mit oder ohne Werbemaßnahmen. Ein Beispiel: Zehn Produzenten von Zahncreme bedienen den Markt. Keiner wirbt. Jeder hat seine Kunden und verkauft eine bestimmte Menge an sie. Glückt es einem, den anderen Kunden abzuwerben, reagieren diese mit »Vergeltungswerbung«.
Am Ende werben alle zehn Produzenten. Das Ergebnis aber ist für alle zehn enttäuschend: Sie verkaufen zusammen nicht mehr als vor ihren Werbeaktionen. Ein Mehrabsatz aller wäre nur realistisch, entschlössen sich die Käufer, sich nicht nur morgens und abends die Zähne zu putzen, sondern auch mittags und nach dem Kuchen am Nachmittag. »Der Schwachsinn des Ganzen setzt sich aus lauter gesundem Menschenverstand zusammen«, sagt Theodor W. Adorno, der große Philosoph.
Jeder Unternehmer strebt nach Extraprofit. Extraprofit erzielt, sieht man von den unbegrenzten Möglichkeiten ab, zu betrügen und zu manipulieren, wer kostengünstigere, produktivere Technik als Erster nutzt und mit neuen, verbesserten Produkten die Kunden erfreut. Da alle anderen die Vorteile auch genießen wollen, imitieren sie den dynamischen Unternehmer, wie Joseph Schumpeter den Neuerer nennt. Das Ergebnis: Die Extraprofite verschwinden, wenn alle das Gleiche tun. Der Extraprofit ist nur eine zeitweilige Erscheinung und dennoch dauerhaft, weil verschwindende und entstehende Extraprofite sich überlagern. Die Konkurrenz beseitigt ihn und erzwingt ihn immer wieder neu. Es bestehe, so Friedrich Engels, »ein kolossales Missverhältnis zwischen den vorgesteckten Zielen und den erreichten Resultaten«. Der gewollte Zweck wird nur ausnahmsweise erreicht, sein gerades Gegenteil tritt weit häufiger ein.
Ganz so wie damals, als das Aufstehen aller den Sinn des Aufstehens einzelner verschluckte: Dass bis heute in Stadien fast alle aufspringen, hat Gründe, die jenseits des Vernünftigen liegen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.