Aufarbeitung des Justizskandals gefordert

Lübecker Initiative verlangt Einrichtung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses

Die Parallelen zu den einseitigen Ermittlungen nach den Morden des rechtsterroristischen NSU, die sich ausschließlich auf das familiäre Umfeld der Opfer konzentrierten, sind frappierend: Nach dem Brandanschlag auf eine Unterkunft für Geflüchtete in Lübeck vor 25 Jahren trachtete die Staatsanwaltschaft danach, einem Bewohner des Brandhauses, dem jungen Libanesen Safwan E., das Verbrechen anzuhängen. Dabei waren die Hinweise auf die vier Neonazis Maik W., Dirk T., René B. und Heiko P. aus dem mecklenburgischen Grevesmühlen offensichtlich, zwei von ihnen bezichtigten sich selbst der Tat. Doch zu einem Prozess gegen sie kam es nie.

Die Lübecker Initiative »Hafenstraße ’96« veranstaltet auch zu diesem 25. Jahrestag des rassistischen Anschlags eine Gedenkwoche - und fordert in einer vergangenen Montag gestarteten Onlinepetition an den Landtag von Schleswig-Holstein die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses, der das dubiose Vorgehen der Ermittlungsbehörden damals aufklären soll. Er solle dazu beitragen, dass die Opfer ebensowenig in Vergessenheit geraten wie der Justizskandal. Die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft hätten »viele Fragen« aufgeworfen, heißt es in der Petition: »Beweismittel verschwanden, Aussagen wurden verfälscht, eine Leiche wurde zur Einäscherung freigegeben, obwohl noch keine Todesursache ermittelt war. Auffällig ist die Einseitigkeit der ›Pannen‹: Polizei und Staatsanwaltschaft ignorierten Spuren, die in Richtung Nazis deuteten.« Zu den Erstunterzeichnern der Eingabe gehören neben der Hamburger Rechtsanwältin Gabriele Heinecke, die Safwan E. in den beiden Prozessen verteidigt hatte, der ehemalige Lübecker Michael Bouteiller und die Journalistin Beate Klarsfeld und mehrere Wissenschaftler.

Chronik

18. 1. 1996: um 3.41 Uhr Feueralarm in der Flüchtlingsunterkunft Hafenstraße. In den Folgestunden sterben zehn Menschen, unter ihnen sieben Kinder und Jugendliche; weitere 39 werden zum Teil schwer verletzt. Am Morgen nimmt die Polizei drei junge Neonazis aus Grevesmühlen fest, die sich zur Tatzeit in Lübeck aufgehalten haben. Am Abend wird ein vierter Neonazi festgenommen.

19. 1. 1996: Die Neonazis werden freigelassen. Ein Rettungssanitäter am Brandort belastet den Hausbewohner Safwan E., gegen den U-Haft angeordnet wird.

20. 1. 1996: Großdemonstration in Lübeck mit der Forderung nach Bleiberecht für alle überlebenden Opfer.

3. 2. 1996: Das Tatgeständnis eines der Neonazis (Heiko P.) wird bekannt.

1. 3. 1996: Überlebende aus dem Brandhaus widersprechen der Staatsanwaltschaft, wonach es in der Unterkunft Streit gegeben haben soll, der als Motiv von E. für die Brandlegung herhalten soll.

25. 3. 1996: Rechtsanwältin Gabriele Heinecke wird mit der Verteidigung von Safwan E. betraut.

22. 4. 1996: Eine internationale Untersuchungskommission konstituiert sich.

8. 5. 1996: Die Ermittlungen gegen die vier Neonazis werden eingestellt.

2. 7. 1996: Safwan E. kommt aus der U-Haft frei.

16. 9. 1996: Der erste Prozess gegen E. beginnt.

20.12.1996: Maik W. aus dem Grevesmühlener Neonaziquartett bekennt sich zum Anschlag.

16. 1. 1997: Hakenkreuzschmierereien in Lübeck, u. a. an der Kirche, in der ein Gedenkgottesdienst für die Anschlagsopfer stattfinden soll.

30. 6. 1997: Safwan E. wird nach mehr als 50 Verhandlungstagen am Landgericht Lübeck freigesprochen.

1. 12. 1997: Die Brandruine in der Hafenstraße wird abgerissen.

22. 2. 1998: Maik W. wiederholt in der JVA Neustrelitz, wo er wegen Diebstahls einsitzt, sein Bekenntnis zur Tat.

23. 3. 1998: Maik W. legt vor Polizei und Staatsanwaltschaft ein Geständnis ab, widerruft es aber vor Vernehmungsende.

13. 7. 1998: Maik W. wiederholt sein Geständnis gegenüber einem Journalisten.

24. 7. 1998: Der Bundesgerichtshof lässt Revision gegen den Freispruch von Safwan E. zu.

18. 1. 1999: Den Überlebenden wird ein dauerhaftes Bleiberecht zugesichert.

3. 9. 1999: Der zweite Prozess gegen Safwan E. startet vor dem Landgericht Kiel.

2. 11. 1999: E. wird auch vor dem Landgericht Kiel freigesprochen.

3. 1. 2000: Anwältin Heinecke legt bei der Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig Beschwerde wegen der Einstellung der Ermittlungen gegen die vier Neonazis ein, findet aber kein Gehör.

20. 5. 2000: Am Brandort wird ein Gedenkstein errichtet.

15. 5. 2002: Heinecke beantragt beim Oberlandesgericht Kiel ein Klageerzwingungsverfahren gegen die vier Neonazis.

10. 6. 2002: Das OLG weist den Antrag ab.

Ende 2011: Nach Bekanntwerden der NSU-Morde wird das Kieler Justiz- und Innenministerium in einem Appell aufgefordert, die Ermittlungen zum Lübecker Anschlag wieder aufzunehmen.

18. 1. 2012: Justizminister Emil Schmalfuß erklärt vor dem Innen- und Rechtsausschuss des Landtags in Kiel, es gebe keine neuen Erkenntnisse zu dem Anschlag, daher würden sich neue Ermittlungen verbieten.

18. 1. 2013: Der Gedenkstein für die Anschlagsopfer wird geschändet.

10.11.2018: Erneut wird der Gedenkstein mit SS-Runen besudelt.

11. 1. 2021: Mit dem Start einer Petition für die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu dem Fall im Kieler Landtag beginnt die diesjährige Gedenkwoche.

Die Initiative »Hafenstraße ’96« mahnt wie die Angehörigen der Opfer des rassistischen Mordanschlags in Hanau am 19. Februar 2020 und ihre Unterstützer, die zehn Opfer des grauenhaften Brandes in der Nacht zum 18. Januar 1996 nicht zu vergessen. Als das Feuer ausbrach, befanden sich 48 Menschen in dem Haus in der Lübecker Hafenstraße 96. Zehn von ihnen starben in den Flammen: die 33-jährige Françoise Makudila und ihre Kinder Christine (17), Miya (14), Christelle (8), Legrand (5) und Jean-Daniel (3). Monique Maiamba Bunga (27) wollte mit ihrer Tochter Nsuzana (7) über das Dach fliehen. Beide stürzten ab und erlagen später ihren dabei erlittenen Verletzungen. Der 17-jährige Rabia El Omari erstickte in seinem Zimmer. Später fand man im Vorbau des Hauses die verkohlte Leiche von Sylvio Amoussou. Gerichtsmediziner stellten fest, dass er schon vor dem Brand tot war.

Die Initiative erinnert auch daran, dass der Anschlag 1996 der traurige Höhepunkt einer ganzen Serie rechter Verbrechen in Lübeck war. So waren im März 1994 und im Mai 1995 Brandanschläge auf die dortige Synagoge verübt worden. Für diesen Montag ruft sie zu einer Gedenkveranstaltung am damaligen Tatort auf. Der Beauftragte für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen des Landes Schleswig-Holstein, Stefan Schmidt, kündigte seine Teilnahme an. Er erklärte am Freitag, der Brandanschlag stehe »für einen mutmaßlich nachlässigen staatlichen Umgang mit politisch motivierten Gewalttaten durch Neonazis«.

Petition: https://hafenstrasse96.org Gedenkveranstaltung in Lübeck: 18.1., 18 Uhr am Gedenkort Hafenstraße, Ecke Konstinstraße

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