Das Unbehagen an der Impfung

Warum haben die Menschen Angst, sich gegen Corona impfen zu lassen?

  • Alex Struwe
  • Lesedauer: 6 Min.

Eigentlich verlief alles ziemlich genau nach Plan. Frühestens Ende des Jahres, hieß es im März 2020, während des ersten Lockdowns, sei mit einem Impfstoff gegen die Corona-Erkrankung zu rechnen. Mittlerweile gibt es die Impfung, über eine Million Menschen haben sie in Deutschland bereits bekommen, und somit »sehen wir das lang ersehnte Licht am Ende des Tunnels heller werden«, wie es der Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache ausdrückte. Aber wie diese ungewollte Analogie zu den Beschreibungen der letzten Sekunden, die ein Sterbender durchlebt, so ist die ganze Situation rund um die Impfung, sagen wir, unbehaglich.

Tatsächlich fühlt es sich nicht nach dem historischen Meilenstein an, den es eigentlich bedeutet, so schnell einen Impfstoff entwickelt und zur Verfügung zu haben. Dass sich keine Begeisterung für die Impfung einstellt, mag daran liegen, dass die Impfkampagne zunehmend in Chaos ausartet, die Fehlplanungen und -kalkulationen immer offensichtlicher werden. Und doch erklärt das noch nicht die grundlegende Unsicherheit gegenüber der Impfung. Die Impfbereitschaft, entnimmt man den Umfragen, sei gesunken und an manch neuralgischen Punkten wie im Pflegebereich so gering, dass offen über den Tabubruch einer Impfpflicht nachgedacht wird. Der zunehmende Einfluss des sich radikalisierenden rechten Querdenkermilieus kann dafür kaum allein verantwortlich sein. Wie erklärt sich sonst, dass selbst unter jenen Vernünftigen, die bisher alle Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mitgetragen haben und sich oft über Coronaleugner empörten, überlegt wird, ob man sich denn wirklich mit als Erstes impfen lassen sollte?

Man hat es hier nicht mit einerseits dem gut begründeten Zweifel und andererseits der Wahnvorstellung Einzelner zu tun, sondern mit einem tiefer liegenden Unbehagen. Der Begriff stammt aus der Psychoanalyse Sigmund Freuds und bezeichnet jene Gefühlsambivalenz, die für unsere moderne Kultur spezifisch ist. Wir können uns zwar als Individuen entfalten, zugleich müssen wir jedoch dafür unsere Triebe unterdrücken. Die Gesellschaft und ihre Kultur sind so die Grundlage unserer Freiheit, aber zugleich auch deren Bedrohung.

Unbehagen bedeutet, diesen basalen Widerspruch zu fühlen, ohne ihn zu verstehen. Meistens mischt sich dann dieses Gefühl einer unbestimmten Bedrohung mit anderen Konflikten. So findet sich Unbehagen in den Abstiegsängsten der Mittelschicht, in der sich bedroht fühlenden hegemonialen Männlichkeit, im Wahn vom großen Austausch oder in anderen menschenfeindlichen Projektionen. Diese Ängste lassen sich weder aus bloßen Interessen oder Klassenpositionen ableiten, noch sind sie nur irrational. Sie sind Ausdruck des Unbehagens.

Die Ermahnungen der Regierung, Impfskepsis sei schlicht Realitätsverweigerung, fruchten hier nicht. Dem rechten Verschwörungswahn, der im Impfen den Beginn einer »New World Order« herbeifantasiert, gilt die empirische Realität schon lange nicht mehr als Argument. Den vermeintlich Vernünftigen hingegen ist auch nicht damit geholfen, wenn man ihnen nur weiterhin versichert, dass es nichts zu bezweifeln gäbe. Das Unbehagen wird damit auf eine rationale Abwägung zwischen Nutzen und Risiko heruntergespielt, wenn etwa davon gesprochen wird, man müsse die Ängste der Menschen auch gegenüber der Impfung ernst nehmen, dürfe nichts beschönigen und müsse offen und ehrlich selbst die Probleme und Risiken kommunizieren.

Solche öffentliche Aufklärung verhehlt, dass das Unbehagen an der Impfung nicht nur auf rationalen Gründen basieren kann. Die wenigsten haben ernsthafte Einwände gegen einen Impfstoff, niemand kennt ein konkretes Risiko, das man nicht auch bei gewöhnlichen verschreibungspflichtigen Medikamenten eingehen würde. Ist die Impfskepsis dann also nur eine Ängstlichkeit aus Ungewissheit? Etwa in der diffusen Sorge, dass man nicht alle Folgen der Impfung kenne, weil Tests und Kontrollen abgekürzt wurden?

Oder eben in der Unterstellung, hinter der offiziellen Erzählung der Impfkampagne müsse ein düsterer Plan versteckt sein. Aber solche Ungewissheit ist nichts Neues, man könnte sie gegen jede technische Errungenschaft dieser fortschritts- und wachstumsoptimistischen Gesellschaft vorbringen.

Etwas hat sich jedoch mit der Pandemie geändert: Die globale Krisenlage hat ein Gefühl der Unsicherheit und des Ausgeliefertseins akut werden lassen, das sich bislang effektiv unterdrücken ließ, sich aber nun in der Skepsis gegenüber der Impfung zeigt. Selbst das Staatsversagen angesichts von Wirtschafts- und Finanzkrise oder dem Massensterben im Mittelmeer hat keinen Vertrauensverlust der Menschen in die bestehenden Verhältnisse ausgelöst. Die Erzählungen von Wirtschaftswunder bis Exportweltmeister hielten Sozialabbau und Hartz IV stand, um noch jede Erfahrung gesellschaftlicher Demütigung verdrängen zu können. Aber gerade solche Ideologie der Alternativlosigkeit oder, wie Mark Fisher es nannte, des »kapitalistischen Realismus« lässt erahnen, dass die grundlegende Unsicherheit der eigenen Existenz in der Gesellschaft sehr wohl als Bedrohung gefühlt wird.

Mit dem Virus kehrt traumatisch ins Bewusstsein zurück, dass diese Bedrohung zur modernen kapitalistischen Gesellschaft dazugehört, die schon Marx im »Kommunistischen Manifest« als »ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände« beschrieben hat. Die große Errungenschaft dieser kreativen Zerstörungsleistung ist die bürgerliche Freiheit des Individuums, das Unbehagen jedoch deren direktes Anhängsel. Es ist die gefühlte, aber nicht erkannte Ambivalenz, dass wir in unserer Gesellschaft frei sind, auch frei von den Mitteln, uns selbst zu erhalten. Als freie Individuen sind wir abhängig von der Gesellschaft.

Die Pandemie hat in erster Linie diese Abhängigkeit wieder deutlich werden lassen. Je liberaler die Gesellschaft ihrem Selbstverständnis nach ist, desto weniger wird der Widerspruch zwischen Ideologie und realen Verhältnissen aushaltbar. Dass man trotz all der Opfer, die man für sein Eigenheim, den SUV oder die vielen Follower bei Instagram bringen muss, am Ende doch einfach wie alle krank werden und daran sterben kann, weil die Krankenhäuser überlastet sind, führt die Abhängigkeit und Ohnmacht, die es im kapitalistischen Wettbewerb gibt, vor Augen.

Diesen Konflikt im Unbewussten zu belassen, nährt das Unbehagen. Kein Wunder also, dass in diesen Zeiten Verschwörungstheorien eine Hochkonjunktur erleben. Sie setzen am Unbehagen an und können nahezu jede beliebige Wahnvorstellung damit attraktiv machen, dass sie die zugrunde liegende Ohnmacht weiter verdrängen. Es sind Ermächtigungsfantasien, wie sie bereits der Soziologe Leo Löwenthal in seiner Studie »Falsche Propheten« als festen Bestandteil faschistischer Agitation begriff. Nicht umsonst wird sein Buch dieser Tage ob seiner Aktualität neu aufgelegt.

Im Umkehrschluss dieser Logik wird alles angefeindet, worauf man diese Ohnmacht projizieren kann, um sie stellvertretend zu vernichten. Das ist der Grund, warum die Leugnung der Covid-19-Krankheit mit einer Dämonisierung der Impfung dagegen einhergeht. Die Ohnmacht wird aktiv verleugnet und projektiv verdrängt. Denn noch mehr als das konkrete Risiko, sich gegenseitig zu infizieren, ist die Impfung Projektionsfläche der eigenen Abhängigkeit und muss abgewehrt werden.

Aber diese Wahnvorstellung hat ihren Grund in ganz realen Gegebenheiten. Es ist ein realer Widerspruch, aus dem das gesellschaftliche Unbehagen und seine projektive Verdrängung erwachsen. Das Unbehagen an der Impfung spüren daher tendenziell alle, dafür muss man nicht von Kinderblut trinkenden Finanzeliten und Ähnlichem fantasieren.

Eine Aufklärung gegen das regressive Potenzial dieses Unbehagens, kann nicht darin bestehen, immer wieder die Risikoarmut des Impfens zu beteuern und die Vernunft gegen die Skepsis auszuspielen. Die Aufklärung müsste sich dem Unbehagen widmen, das einen ganz nachvollziehbaren Effekt gesellschaftlicher Irrationalität darstellt.

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