Umgegrabene Welten

Offene Gesellschaft? Karl Popper und George Soros - dort, wo einmal Osten war.

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Eine offene Gesellschaft, in der es keine auserwählten Klassen und Rassen gibt, keine Militarisierung, wo alle gleiche Rechte haben und soziale Gerechtigkeit durch schrittweise Reformen möglich wird: Es war eine schöne Vision, die der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper (1902-1994) seinen Lesern in die Seelen pflanzte.

Zumindest im Westen war das wohl so. Die meisten im Osten kannten ihn nicht, zumal dem Titel seines Hauptwerks »Die offene Gesellschaft« (1945) drei Wörter hinzugefügt waren, die es in Zeiten des Kalten Krieges zur Kampfschrift machten. Mit »und ihre Feinde« waren Gut und Böse gegenübergestellt. Die eben besiegte NS-Diktatur war mit dem Stalinismus zusammengespannt. Antifaschisten gleichgesetzt mit denen, die sie bekämpft hatten, was nur unter völliger Ausblendung ökonomischer Eigentums- und Machtverhältnisse gelang. So lieferte Popper ein Denkmodell, das bis heute das kapitalistische System verhimmelt.

»In Defence of Open Society - Für die Verteidigung der offenen Gesellschaft«: Mit dem Verweis auf das neueste Buch des US-amerikanischen Finanzmagnaten George Soros beginnt Wolfgang Engler seine Ausführungen - voraussetzend, das seine Leser wissen, was jeder bei Wikipedia nachschlagen kann: 1979 gründete Soros mit Hilfe seines riesigen, aus Finanzgeschäften stammenden Vermögens die »Open Society Foundations«. Diese spielten eine »wichtige Rolle bei den politischen Prozessen in Osteuropa, die 1989/90 zum Zusammenbruch des Ostblocks führten« und sind bis heute mit über 20 regionalen Instituten in verschiedenen Ländern aktiv.

Die »Zivilgesellschaft« zu unterstützen, das mag ja gut klingen. Aber wenn das wie meist gegen die herrschenden Eliten geschieht um eines »Regime change« willen, kann das autoritäre Strukturen auch verfestigen und unabsehbare Konsequenzen haben. So einfach lässt sich die »offene Gesellschaft« nicht exportieren.

In der »London School of Economics and Political Science« hat Soros bei Popper studiert. Obgleich sich Popper gegen Utopien wandte, weil der einzelne nicht in der Lage sei, die Gesellschaft als Ganzes zu überschauen, hat er doch selbst eine solche formuliert. Im geopolitischen Kräftespiel lässt sich diese gut ausnutzen.

»Offenheit«, auch »Glasnost« lässt sich so übersetzen: Welche Strahlkraft steckt in diesem Wort. Wie viele Sehnsüchte kann es bündeln, zumal von kulturell aktiven Leuten. Auch ich bin bei der von Künstlern organisierten Großdemonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz davon emporgetragen worden und habe die Rede Heiner Müllers als störend und unpassend empfunden. Engler zitiert: »Ein Ergebnis bisheriger DDR-Politik ist die Trennung der Künstler von der Bevölkerung durch Privilegien. Wir brauchen Solidarität statt Privilegien.« Anschließend verlas Heiner Müller einen Aufruf der Initiative für unabhängige Gewerkschaften. Vorweggenommen war, was am 9. November eingeläutet werden sollte und was am 4. noch so wenige begriffen: »Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken. Die Daumenschrauben sollen angezogen werden.«

Wenn die Öffnung zur Spaltung wird

Ob jene im Osten, die für den Westen optierten, eine realitätsnahe Vorstellung hatten von dem, was dann geschah? Sie wählten das Land, das ihnen allabendlich über das Westfernsehen in die Wohnzimmer kam: einen Wohlfahrtsstaat, der gleichzeitig eine offene Gesellschaft war. Ich sehe noch die Bilder vor mir, wie Menschen in den Aufnahmelagern sich freuten, weil sie sofort Arbeitsplätze und Wohnungen bekamen, und wie Helmut Kohl in einer Talkshow die Sorgen beruhigte, jemand würde seine Arbeit verlieren: Auch Arbeitslose könnten nach Mallorca reisen.

»Im Rückblick ist der Flankenschutz der ›offenen Gesellschaft‹ für die Landnahme des Kapitalismus nach 1989 unverkennbar«, schreibt Wolfgang Engler. »Privatisierung vor Sanierung« - davon waren allein bis 1992 über 10 000 der 12 534 Staatsbetriebe der DDR betroffen. »Millionen Menschen schlagartig ökonomisch auf Entzug - der Keim für das Unbehagen an den Verheißungen der neuen Zeit, hier wurde er gelegt.« Enttäuschungen: Damit hatte sich Wolfgang Engler schon in seinem Gesprächsband »Wer wir sind« zusammen mit Jana Hensel beschäftigt. Einen Satz daraus habe ich mir so eingeprägt, dass ich ihn schon mehrfach zitierte. Im neuen Buch findet er sich wieder auf Seite 104: »In allen vom Neoliberalismus umgegrabenen Gesellschaften herrscht massenhafte Wut.« Denn: »Neoliberal geöffnete Gesellschaften sind sozial gespaltene Gesellschaften.«

Oben gegen unten, unten gegen außen

Wolfgang Engler geht mit einer Unmenge philosophischer und soziologischer Literatur um. Mit seiner kompakten Analyse, beginnend schon mit dem auf Popper bezogenen Titel, ist er wohl auf Diskussion in der Fachwelt aus. Doch auch derselben eher Fernstehenden ist gewinnbringendes, ja genussvolles Lesen versprochen. Der Autor formuliert mit Freude, zupackend, mitunter in aphoristisch prägnanten Sätzen, die man sich anstreichen, herausschreiben und merken möchte. Er greift auch historisch weit aus. Interessant insbesondere das Kapitel, wie der Neoliberalismus geboren wurde und wie es der Thatcher-Regierung in Großbritannien gelang, Gegenreaktionen klein zu halten. Mit der Deregulierung der Finanzmärkte wurde die Büchse der Pandora geöffnet. Zwar lehnte Popper »die Vergötzung des Marktsystems kategorisch ab«, doch leistete er ihr »Schützenhilfe«.

»Humanistischer Individualismus und Ökonomismus ›können‹ miteinander.« Das gilt für die einigermaßen komfortabel Ausgestatteten. Wer in ökonomischer Unsicherheit lebt, für den ist die Gesellschaft meist nur nach unten offen. Die Angst abzustürzen, macht depressiv und aggressiv. »Abschottung von Oben zur Mitte, von der Mitte zu Unten, von Unten zu Außen« - eine »gesellschaftliche Dynamik auf absteigender Linie«, der sich Individuen entgegenstemmen, wie sie nur können. »Reiche, Mittelschichten und Arme verbindet heute weniger miteinander denn je in der jüngeren Vergangenheit. Die Reichen kennen kein Vaterland, die Armen nur dieses eine, und das von unten. Arbeitslose Menschen formieren einen sozialen Stand mit zunehmend eingeschränkten Rechten. Diese Dialektik, dieses Zugleich von zivilisatorischen und dezivilisatorischen Prozessen bildet die Matrix unserer offenen Gesellschaften.«

Die detailliert beschriebenen Versuche des »Kulturproletariats«, durch kulturelles, symbolisches Kapital bei schwieriger ökonomischer Lage den eigenen Status auszubauen, hätten ein Buch für sich tragen können. Wie kompensatorischer Bekehrungseifer für Offenheit und Toleranz oft gleichzeitig neue Barrieren schafft, ist fatal. Wie sich überall Grenzen durch diese Gesellschaft ziehen, wie der Groll breiter Gesellschaftsschichten von der Neuen Rechten ausgenutzt wird, wie Unmut sich auch aggressiv Bahn bricht, ist Zeichen einer Krise, die durch Corona noch verstärkt wird.

»Haben die auf neoliberale Weise offenen Gesellschaften ihren Zenit überschritten?« Paradigmenwechsel? Transformation? Stärkere Bedeutung der Nationalstaaten? Fortsetzung jenes Notstand-Politikmodus, den wir jetzt durch die Pandemie erleben, angesichts von ökonomischer Depression und Umweltkrise?

»Die exorbitante Staatsverschuldung, wie gehabt, auf die Masse der Normalbürger umzuwälzen, zuzüglich einer eisernen Austeritätspolitik, die die öffentlichen Institutionen gegen alle Vernunft herunterfährt und Gebühren sowie Abgaben erhöht, das käme einer geradezu mutwilligen Aufwiegelung der Leute gleich.« Dagegen würde »eine konsequente Gemeinwohl-Orientierung der Post-Corona-Politik« ohne Abschaffung der Machtverhältnisse eine Reform des Systems bedeuten, die durchaus auf eine Weise auch im Sinne Karl Poppers wäre.

Wolfgang Engler: Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen. Matthes & Seitz, 207 S., brosch., 18 €.

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