Einen Blumenkranz nach dem Sieg

Die indischen Bauern im Protestcamp in Delhi sind kompromisslos. Sie wollen die Farmgesetze komplett verhindern

  • Shams ul Haq
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Proteste begannen in dem nördlichen Bundesstaat Punjab und weiteten sich dann zum Marsch nach Delhi aus. Hunderttausende Bauern schlossen sich im November dem Aufruf der Gewerkschaften an, während die Polizei anfangs mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Tränengas gegen die Demonstrierenden vorging. Mittlerweile hat der Oberste Gerichtshof die Umsetzung der im September beschlossenen Farmgesetze ausgesetzt, und auch die Regierung hat ihre Kompromissbereitschaft angekündigt. Doch die Bauerngewerkschaften haben angekündigt, die Proteste erst nach der völligen Aufgabe des Vorhabens zu beenden.

Die Gesetze sollten den indischen Markt für den globalen und elektronischen Handel öffnen. Statt wie bislang landwirtschaftliche Erzeugnisse in staatlich organisierten Großmärkten zu garantierten Mindestpreisen zu handeln, sollen die Erzeuger fortan direkt an Privatfirmen verkaufen. Der chronische Produktivitätsmangel soll dadurch behoben werden. Doch viele Bauern erwarten durch die neuen Regelungen einen Preisverfall für ihre Erzeugnisse und sehen dadurch ihre Existenz bedroht, weil keine Mindestpreise festgelegt wurden. Großkonzerne würden sie am Ende schlucken, so ihre Befürchtung.

Gurmel Singh ist einer der Bauern, die dauerhaft in dem großen Protestcamp in Indiens Hauptstadt ausharren. Der 63-Jährige mit dem weißen Sikh-Turban und langem grauen Bart präsentiert sich stolz mit der Bauernfahne in der Hand. Er stammt aus dem 500-Familien-Dorf Shahpur Kala im punjabischen Distrikt Sangur. Auf seinen zwei Hektar Land baut er Getreide und Raps an. Sein Ertrag für sechs Monate beträgt um die 30 000 Rupien, also knapp 350 Euro. Allerdings sind die Qualität der Erzeugnisse sowie der Ertrag von den Witterungsbedingungen abhängig. Zusätzlich erhält Singh monatlich 2000 Rupien vom Verkauf der nach dem Eigenverbrauch übrig gebliebenen Milch seiner beiden Kühe.

233 Kilometer ist er zusammen mit Nachbarn nach Delhi gereist. Vier Tage haben sie für ihren Marsch gebraucht. Anfangs haben ihn seine Angehörigen begleitet; sie mussten aber zurückreisen, weil sie zu Hause gebraucht werden. Nur ein Enkel ist jetzt noch bei ihm. Seit Generationen ist seine Familie in der Landwirtschaft tätig. Doch nun sieht er für die Bauern kaum mehr eine Zukunft. Die Getreidepreise für die Produzenten seien im freien Markt zu niedrig, erklärt er. Zwischenhändler würden am Handel zu viel verdienen und die Preise für den Endverbraucher hochtreiben, »ohne dass die Landwirte davon etwas haben«. Gleichzeitig stiegen auch die Preise für Saatgut, Dünger und Schädlingsbekämpfungsmittel. »Solange der indische Staat unseren Forderungen nicht nachkommt, werden wir hier sitzen«, meint Gurmel Singh. Dazu gehöre, dass die Abnehmerpreise festgelegt werden müssen, um saisonale Preisschwankungen und Unsicherheiten für Einkäufe auszugleichen. Landwirtschaftliche Produkte sollten zudem möglichst nicht direkt exportiert werden, weil die Bauern dann unter Preisdumping litten.

Die 55-jährige Sukhwinder Kaur stammt aus Basia, das auch im Distrikt Sangur liegt. Sie kam am 10. Januar nach Delhi, um Demonstranten aus ihrem Dorf abzulösen. Regelmäßig finden solche Wechsel statt, um sicherzustellen, dass das Dorf im Protestcamp präsent bleibt, zugleich aber zu Hause die Felder bestellt, das Vieh und die Kinder versorgt werden. In Basia hat ihre Familie drei Kühe und zwei Hektar Land, auf dem sie viele verschiedene Sorten von Getreide und Gemüse anbaut.

In ihrem Dorf herrschten typische soziale Probleme, erzählt sie. Manche Bauern besäßen kein eigenes Land, sondern pachteten bei Großbauern Landparzellen, die sich das gut bezahlen ließen. Wenn das Geld knapp ist, seien viele Bauern dazu gezwungen, sich an einen örtlichen Kreditgeber zu wenden. Kaur und ihr Mann zahlen selbst 400 000 Rupien an Schulden ab, die sie für die Hochzeit ihrer Tochter ausgegeben hatten. Außerdem sei die Haushaltskasse durch das Schulgeld der Kinder belastet worden, aber das Paar wollte den Kindern die Ausbildung an einer der Privatschulen ermöglichen, wo der Unterricht besser ist. Gespart werde im Notfall am eigenen Essen, meint sie. Aus selbst angebauten Kräutern machen sie häufig eine schlichte Soße, die sie zusammen mit Brot essen.

Zur Demonstration in Delhi sind sowohl die Klein- als auch die Großbauern aus ihrem Dorf gekommen. Dankbar ist Kaur dafür, dass beim Protest in der Hauptstadt die Konflikte zwischen unterschiedlichen Stämmen und Kasten in den Hintergrund gerückt seien und dieser trotz unterschiedlicher Sprachen gemeinsam zum Ausdruck gebracht werde. Alle vereine die Unzufriedenheit mit den staatlichen Gesetzen, sagt sie. Reiche Bauern hätten den ärmeren zudem finanzielle Unterstützung während der Protestphase zugesichert. Kaur hat schon an früheren kleineren Bauern-Demonstrationen teilgenommen. Bislang hatten sich die Bauern immer nach Zusagen der Regierung zurückgezogen. Diesmal aber seien sie nicht mehr dazu bereit. »Wir machen das für die Zukunft unserer Kinder. Denn wenn es so weitergeht, wird der Beruf des Landwirts in Indien sterben«, ist sie sich sicher. »Alle Jungen werden in die Städte gehen. Und das wollen wir nicht!« Angst habe sie keine, meint sie. Vielmehr möchte sie an der vordersten »Front« dabei sein.

Der Dorfpriester habe ihr nach dem Gebet gesagt, sie solle nicht ohne Erfolg zurückkehren. »Es kann zwei Jahre dauern, sagte unser Priester. Es kann mein Leben dauern, aber ich und viele Frauen werden nicht weichen.« Zufrieden stellt sie fest, dass die Frauen durch die aktive Beteiligung an den Protesten respektiert werden: »Wir unterstützen unsere Männer auch hier im Camp, kochen mit ihnen gemeinsam, waschen Kleider, bügeln, halten die Zelte sauber, entsorgen Müll. Unser Ansehen hier ist schon gestiegen.«

Zu den Jüngeren im Camp zählt der 26-jährige Gurbat Singh aus einem Dorf nahe der Grenze zu Pakistan. Weil sein Vater krank und bettlägerig wurde, konnte er nach dem Abitur kein Studium aufnehmen. Stattdessen kümmern er und seine beiden Brüder sich um die Aufrechterhaltung des Anwesens. Seine Familie baut Reis an und gehört zu den größten Bauern im Dorf. Die Milch ihrer zwei Kühe wird hingegen meist für den Eigenverbrauch gemolken. Zudem besitzen sie einen Traktor und helfen anderen Familien, teils gegen Entgelt, teils gegen Reislieferungen. Manchmal aber auch gratis, wenn die Bedürftigkeit der Kleinbauern bekannt ist.

Der junge Mann mit Jeans und Kaschmirschal wäre eigentlich im heiratsfähigen Alter. Anfragen gebe es. »Sogar aus Kanada«, erzählt er. Doch daran denkt er vorerst nicht. »Zurzeit bin ich mit der Demonstration beschäftigt.« Singh hat seinem Vater gesagt, dass er erst zurückkomme, wenn sie gewonnen hätten. »Ich habe ihn gebeten, mir dann eine Blumenkette umzuhängen. Sollte ich jedoch sterben, soll er sie über mein Foto hängen.« So ist der Brauch.

Den Konflikt zwischen Bauern und Regierung nimmt Singh als einen Kampf zwischen Leben und Tod wahr. Für ihn gibt es nur Sieg oder Niederlage: »Wenn wir dieses Jahr nach einer solch großen Demonstration verlieren sollten, werden wir ein Leben lang Verlierer bleiben. Dann hätten wir unser Gesicht verloren.« Es betrübt ihn, dass es Kollegen gebe, die zu Hause blieben, weil sie glauben, dass der Protest nichts bringe. »Dabei besteht doch die Gefahr, dass wir unsere Heimaterde an große Agrarkonzerne verkaufen müssen, um fortan als Lohnabhängige für sie zu arbeiten. Wir dürfen dann unseren eigenen Weizen bei diesen Firmen von unserem Lohn kaufen. Besser, wir sterben also jetzt ehrenvoll, als dass wir später langsam in den Fängen der Firmen zu verenden.«

Seit November ist Gurbat Singh mit nur einer kurzen Unterbrechung im Camp. Er fühlt sich verpflichtet zu bleiben, nicht zuletzt deshalb, weil ärmere und verschuldete Menschen aus seinem Dorf auch blieben. Zwar vermissten ihn seine Eltern, »aber auch das hier ist meine Familie«, erzählt er. Er habe Jugendliche getroffen, die Probleme mit Alkohol, Drogen und Internetsucht hätten, im Camp aber in Kontakt mit älteren Menschen gekommen seien. »Sie übernehmen jetzt Aufgaben, verteilen Wasser und helfen anderen Demonstranten.« Singh selbst engagiert sich ebenfalls - er ist für die Organisation auf der Hauptrednerbühne zuständig. Regelmäßig finden neben Gruppenmeetings auch Auftritte von Vertretern der Bauernorganisationen statt. In Zukunft kann er sich durchaus vorstellen, selbst in die Politik zu gehen, um dort die Bauernrechte zu vertreten. Aber vorerst hofft er, dass die Regierung ihren Forderungen nachkommt. Sie werde ihre Fehler erkennen und die Reformen in anderer Weise in Angriff nehmen, ist er sich sicher.

* Der Autor Shams ul-Haq hat mit WhatsApp mit den beteiligten Personen gesprochen. Er schreibt regelmäßig aus und über Südasien. www.shamsulhaq.de

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