Blumen im Winter

Zum 90. Geburtstag des Grafikers und Malers Ingo Arnold

  • Gerhard Müller
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Grafiker und Maler Ingo Arnold feiert am 26. Februar in der Köpenicker Altstadt seinen 90. Geburtstag. Die Gratulanten werden auf eine »Winterreise« gehen müssen, um ihm Blumen im Winter zu bringen. Winter ist sein Thema. Denn eines seiner Hauptwerke, sein Opus magnum, ist eine umfangreiche Grafikmappe zu den »Winterreise«-Gedichten von Wilhelm Müller. Durch Franz Schuberts Vertonungen wurden sie weltbekannt. Doch nicht um sie geht es hier. Ingo Arnold ließ sich vielmehr von Reiner Bredemeyer inspirieren, der 1983 eine radikal moderne neue Vertonung vorgelegt hatte. Er war von dem politischen Doppel- und Hintersinn der Gedichte fasziniert, und davon ließ sich Ingo Arnold ebenfalls anregen.

1931 in Berlin geboren, erlernte Ingo Arnold die Berufe eines Lithographen und Offset-Retuscheurs, studierte von 1955 bis 1959 an der Fachschule für Werbung und Gestaltung (Schrift und Buchgrafik) und erhielt später eben dort eine Dozentur, die er bis 1970 wahrnahm. Seitdem war er als freischaffender Künstler tätig und beteiligte sich an zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellungen. Einladungen führten ihn unter anderem zur Grafik-Triennale nach Wrocłav, zu den Biennalen nach Kraków, nach Aalborg, Lissabon und Macerata und auf eine Studienreise nach Kolumbien. Seine besondere Aufmerksamkeit galt lebenslang dem Zeichnen. Akribisch ausgeführte Arbeiten auf Papier, beherrscht von einer Ästhetik der Genauigkeit, füllen seine Grafikschränke. Sie zeugen von seiner Leidenschaft, unsere Welt mit Präzision auf Papier zu bannen und selbst gewöhnlichen Gegenständen ihre Poesie zurückzugeben.

In Müggelheim trafen sich in den 70er und 80er Jahren viele junge Künstler, entweder bei dem Komponisten Reiner Bredemeyer oder in Arnolds Atelier. Diese »jungen Wilden« der Künste erfanden, lange bevor einige von ihnen selbst Akademiemitglieder wurden, ihre eigene »Akademie«. Hier verkehrten die Komponisten Friedrich Goldmann, Georg Katzer, Siegfried Matthus, Friedrich Schenker, die Musikwissenschaftler Mathias Hansen und Frank Schneider, auch der Flötist Werner Tast und der Oboist Burkhart Glätzner, zwei hochgeschätzte Virtuosen moderner wie klassischer Musik. Gelegentlich erschienen Volker Braun, Heiner Müller, Karl Mickel oder Friedrich Dieckmann. Man konnte diese bunte Gesellschaft »karnevalistisch« nennen, obwohl der Begriff, den der sowjetische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin geprägt hatte, in der DDR nicht gebraucht wurde. Dieser Karnevalismus, der Geist des Kritizismus und der Opposition, gelangte aus dem privaten Raum in die Künste als gemaltes, gedichtetes oder komponiertes Gelächter. Reiner Bredemeyer zeigte seine Noten, Ingo Arnold seine Grafiken. Nicht alles war auf- oder vorführbar, beispielsweise Bredemeyers »Zeitungssinfonie«, bestehend aus vertonten ND-Zitaten, oder Ingo Arnolds karikaturistischen Porträt-Collagen des politischen Personals. Seine zuweilen surrealen Kompositionen beschrieben eine fragmentierte Welt, die er »Abendscheinwelt«, »Posaunenschallundrauch«, »Kaltfrontbericht« oder »Eisweltordnung« nannte.

Die Müggelheimer Gespräche materialisierten sich vielfältig in Büchern, Bildern oder Partituren. Georg Katzers Märchenoper »Das Land Bum-Bum«, Friedrich Goldmanns Orchesterstück »Inclinatio temporum« (Zeitenwandel), Paul-Heinz Dittrichs Kammeroper »Die Verwandlung« (nach Kafka), Siegfried Matthus’ »Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke« für die Eröffnungsspielzeit der Dresdner Semper-Oper wären als Beispiele zu nennen. Heiner Müller arbeitete an dem Gräuelmärchen »Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei«. Frank Schneider schrieb seine Essays »Momentaufnahme«, bis heute das beste Buch über die Musik in der DDR. Reiner Bredemeyer aber las die Gedichte von Wilhelm Müller neu und war fasziniert, nicht von ihrem romantischen Flair, sondern von ihrer politischen Schärfe, die er in den genialen Schubertschen Vertonungen vermisste. So komponierte er sie noch einmal. Eines schönen Augusttages des Jahres 1984 kam er in die Kantine der Komischen Oper und warf ein neues Manuskript auf den Tisch. Musiker, die gerade Pause hatte, lasen erstaunt: »Die Winterreise - für Bariton, Horn und Klavier«. »Schubert«, fragten sie verwundert. »Nein, Bredemeyer!«

Staunen und Skepsis breitete sich aus. Es ging aber erstaunlicherweise gut. Siegfried Lorenz von der Berliner Staatsoper sang als erster die neuen Lieder. Der prophezeite Eklat blieb aus. Das Publikum erkannte schnell, dass das keine billige Parodie war, sondern ein originales Kunstwerk von Rang.

Ingo Arnold entschloss sich, ihm eine Folge von Foto-Montagen folgen zu lassen. Nicht der fantasierende Zeichenstift, sondern das dokumentierende Foto erschien ihm als das geeignete Medium. Seine Collagen standen bei allem Unterschied der Kunst John Heartfields nahe. Sie zeigten eine vereiste, entvölkerte Welt und waren nicht aggressiv, sondern melancholisch oder, wie Bredemeyer auch in Hinblick auf eigene Arbeiten formulierte, »melanchomisch«.

Die beliebte Linde ist entlaubt, ein Mann geht ins Dunkle, Spuren im Schnee, eine erstarrte, erfrorene Landschaft, das »Wirtshaus« ist das Grab, der »stürmische Morgen« eine Erinnerung an die Pariser Maidemonstrationen von 1968. So haben Bredemeyer wie Arnold ihre Welt gesehen. Sie schufen eine nüchterne, zugleich auch karnevalistisch übertreibende Übermalung der romantischen Vorlage. Zuletzt trifft der Wanderer »draußen vor dem Dorf« einen Bettelmusikanten und will mit ihm seine Lieder singen. Welche Lieder? Freund Reiner Bredemeyer komponierte sie in den 80er Jahren, eine Serie musikalischer Grotesken, die die peinlichen politischen Entgleisungen jener Tage, etwa Kurt Hagers Unwort vom »Tapetenwechsel« oder Helmut Kohls Vergleich von Goebbels und Gorbatschow, in provokative Protest-Noten fasse. Das wären Lieder für den Leiermann. Aber bisher hat noch niemand die »Winterreise« mit solchen karnevalistischen Bockssprüngen kombiniert.

Ein leise verhohlener Spott lacht den Betrachter aus diesen Grafiken an. Sie sind bitter-süß und elegant, ernst und leicht, streng konstruiert und voller Fantastik zugleich. In ihnen klingen die Träume nach, die nicht mehr geträumt werden. Ingo Arnold wird sich ihrer vielleicht an seinem 90. Geburtstag erinnern und ironisch mit seinem romantischem Dichter sagen: »Ihr lacht wohl über den Träumer, / der Blumen im Winter sah?«

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