Mehr Organisation, mehr Repräsentanten

Die algerische Protestbewegung Hirak muss einen qualitativen Sprung machen, sagt der Soziologe Nacer Djabi

  • Claudia Altmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit Beginn der Protestbewegung begleiten Sie die Demonstrationen jeden Dienstag und Freitag. Sie sind dicht an den Geschehnissen. Wie ist die Situation nach einem Jahr pandemiebedingter Pause?

Die Protestbewegung ist in ihrer Zusammensetzung unverändert geblieben. Wir sehen dieselbe Heterogenität, sowohl was das Alter als auch die soziale Vielfalt anbelangt. Bei den ersten Märschen nach der Pause waren etwas weniger Frauen auf den Straßen, weil sie Angst vor Gewalt seitens der Polizei haben. Aber ich bin sicher, dass auch sie wieder präsenter sein werden, genauso wie die Bewohner der sozial benachteiligten Viertel, die Arbeiter und Angestellten, die Mittelschicht und die Studierenden. Hinzu kommen jetzt all jene, die von den Folgen der Pandemie betroffen sind.

Nacer Djabi

Der Professor für Soziologie an der Universität von Algier II und Forscher am Centre de recherche en économie appliquée et développement (CREAD) forscht zu den algerischen Protestbewegungen wie dem Hirak. Mit ihm sprach für »nd« Claudia Altmann.

Wird sich die dadurch verschlechterte soziale und wirtschaftliche Lage auf den Hirak auswirken?

Ja, das denke ich. Es werden mehr Menschen aus den unteren sozialen Schichten vertreten sein. Viele haben ihre Existenzgrundlage verloren, sind arbeitslos geworden oder sind mit ihrem kleinen Unternehmen pleitegegangen. Gleichzeitig sind die Preise für viele ins Unerschwingliche gestiegen. Das wird zunehmend auch soziale Forderungen mit auf den Plan rufen. Aber das ist in Algerien nicht neu. Politische und soziale Forderungen gehen hier schon immer zusammen. Die Menschen haben im Laufe der Jahre verstanden, dass in diesem System die Lösung der wirtschaftlichen Probleme nur im Zusammenhang mit einer Veränderung des politischen Systems einhergehen kann. Deshalb fordern sie eine andere Regierungsführung, Personen an der Spitze, die integer und vom Volk legitimiert sind, glaubwürdige Institutionen, politische Meinungsfreiheit, eine freie und allen offene Medienlandschaft und eine unabhängige Justiz. Das sind nach wie vor die Hauptforderungen des Hirak. Die Regelung dieser Probleme wird immer dringlicher, da sich die derzeitige Führung des Landes angesichts der wirtschaftlichen und finanziellen Krise den sozialen Frieden nicht mehr wie bisher erkaufen kann.

Die Führung hat jetzt auf einige Forderungen reagiert, indem der Präsident das Parlament aufgelöst und vorgezogene Neuwahlen angekündigt hat.

Diese Antworten kommen zu spät, und mit dieser Salamitaktik werden die Probleme nicht gelöst. Ja, die Menschen fordern Wahlen, aber unter anderen Bedingungen. Zuerst wollen sie die individuellen und politischen Freiheiten garantiert sehen. Solange es keine gewissenhafte, faire und glaubwürdige Abstimmung gibt, wird sich überhaupt nichts ändern.

Ist der Hirak in der Lage, etwas zu bewegen?

Der Hirak muss einen qualitativen Sprung machen und darf nicht mehr auf die wöchentlichen Demonstrationen beschränkt bleiben. Diese große Bewegung muss sich in den kommenden Monaten besser organisieren und Persönlichkeiten hervorbringen, die sie repräsentiert. Das wird nicht leicht sein, da die Bewegung dermaßen heterogen ist. Diese enorme Diversität ist zusammen mit seinem absolut friedfertigen Charakter und der starken Verankerung in der Bevölkerung die Stärke des Hirak. Seine Schwächen zeigen sich hingegen in der Organisation und dem Fehlen einer Spitze als Gegenüber zu den derzeit Herrschenden. Diese Repräsentanten müssen auf der Grundlage eines Konsenses die Forderungen der Bewegung formulieren und nach außen vertreten.

Was sind dabei die Schwierigkeiten?

Der Hirak hat neue fähige Leute hervorgebracht, obwohl die Machthaber alles tun, um das zu verhindern. Die Vertreter des Hirak haben keinen Zugang zu den Medien und damit keine Möglichkeit, ihre Positionen bekannt zu machen. Bisher finden die Debatten in den sozialen Netzwerken statt. Aber das reicht nicht aus, womit wir wieder beim Problem der freien Meinungsäußerung und politischer Freiheiten sind. Es gibt hier keine Möglichkeit, eine Versammlung abzuhalten oder eine öffentliche Debatte zu organisieren. Wir sind seit einem Jahr virtuell sehr aktiv, aber das hat seine Grenzen. Die Menschen müssen sich treffen, sich kennenlernen, sich austauschen und diskutieren können. Das ist das Einmaleins eines normalen politischen Lebens.

Solange die Machthaber das unterdrücken, ist es schwierig. Sie wollen sich stattdessen ihre eigene politische Szene schaffen. Nachdem sie festgestellt haben, dass ihre alten Parteien in den Augen der Bevölkerung nicht mehr glaubwürdig sind, suchen sie eine neue politische Klientel. Sie reden viel von der Zivilgesellschaft und der Jugend. Sie bieten jungen Leuten an, ihnen ihre Wahlkampagne zu finanzieren, wenn sie sich bei den Parlamentswahlen bewerben. Das ist nichts anderes als eine Form von Korruption, wenn sie damit ihre Kandidaten auswählen. Es gibt bereits Einige, die in den Medien auftauchen dürfen und deren Anhänger auch Zugang zu großen Sälen haben. Das sind Personen, die bisher in der zweiten oder dritten Reihe des Systems und seiner politischen Organisationen stehen, also letztendlich dem System angehören. Das zeigt, dass sie keinen echten politischen Wandel, sondern nur neue Gesichter präsentieren wollen.

Könnte nicht auch die Protestbewegung Kandidat*innen hervorbringen?

Dazu müsste es ein Minimum an Garantien dafür geben, dass die Wahlen anders sein werden als alle vorherigen. Man darf nicht naiv sein und glauben, dass sich die Zustände von heute auf morgen ändern werden. Wenn also sichergestellt wäre, dass die Abstimmung transparent abläuft, es eine politische Debatte gibt, dann wäre es einen Versuch wert. Solange jedoch von vornherein feststeht, dass die Ergebnisse frisiert sein werden, wird sich nichts ändern. Die Algerierinnen und Algerier werden sich nicht ein weiteres Mal täuschen lassen.

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