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Revolutionäre Archäologie

Christopher Wimmer und Detlef Hartmann entdeckten Kommunen vor der Pariser Kommune

  • Johannes Tesfai
  • Lesedauer: 4 Min.

Jahrestage haben immer etwas Statisches, geradezu Langweiliges. Sie leben von der großen Rückschau. Christopher Wimmer und Detlef Hartmann haben anlässlich des 150. Jubiläums der Pariser Kommune ein Buch geschrieben, das sich so gar nicht in die bedächtige Jahrestagskultur einordnen lässt. In »Die Kommunen vor der Kommune 1870/71« schauen sie nicht so sehr auf das historische Spektakel im Paris jener Zeit, sondern wollen mit der Vorgeschichte eine Kampfgeschichte der Unterklassen liefern, aus der heute noch gelernt werden kann. Sie betreiben Maulwurfsarbeit bei einem Thema, das meist nur die 72 Tage in Paris kennt.

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Detlef Hartmann/ Christopher Wimmer: Die Kommunen vor der Kommune 1870/71. Assoziation A, 144 S., br., 14 €. •

Vielen Chronisten der alten Arbeiterbewegung gilt die Pariser Kommune als der erste wirklich proletarische Aufstand in der Geschichte. Hartmann und Wimmer graben eine spannende und weitestgehend verschüttete Geschichte kleinerer Aufstände und Kommuneversuche aus, die während des Deutsch-Französischen Krieges (1870/71) vor allem die französische Provinz in Aufruhr versetzten. Die Autoren verweigern sich damit der gängigen Lesart, dass der Pariser Revolutionsversuch isoliert war und historisch ungeübt sich selbst aus dem Nichts erschuf. Sie sehen diese kleinen Erhebungen als Lernorte der gerade entstehenden Arbeiterklasse und suchen nach Forderungen und Organisationsformen, die sich später in Paris wiederfinden lassen. Hartmann und Wimmer betreiben revolutionäre Archäologie. Als wären die Erfahrungen in der Provinz Erfahrungsschichten, auf denen der Aufstand in der Hauptstadt aufbauen konnte.

Jede revolutionäre Erzählung endet oder beginnt mit der Einnahme der Hauptstadt - die Stürmung des russischen Winterpalais ist bis heute der Inbegriff von Revolution. Im Frankreich des 19. Jahrhunderts war dies noch naheliegender. Denn Paris wurde vom Bürgertum und der Regierung zum politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum ausgebaut. In Hartmanns und Wimmers Buch verschiebt sich das Epizentrum der Revolten in kleinere Städte wie Lyon oder in die regelrechte Provinz nach Le Creusot. Dem Zentralismus stellten die Aufständischen eine lokale Autonomie entgegen, die für das Bürgertum besonders mit der aufkommenden Industrialisierung eine Gefahr bedeutete. Folgerichtig verweisen die Autoren auf den Aufstand der Gelbwesten aus jüngster Zeit, der seinen Anfang auf den öden Verkehrsinseln der Kreisverkehre in den Kleinstädten nahm. Für sie gilt, was die Autoren auch für die Pariser Kommune feststellen: »Paris war wieder einmal nicht das Zentrum des Aufstandes, er wurde lediglich in die Stadt hineingetragen.«

Dass das Verhältnis von Zentrum und Peripherie in einer damaligen Kolonialmacht wie Frankreich nicht nur ein Verhältnis von Provinz und Hauptstadt war, sondern auch von Kolonie und Europa, zeigen die Autoren eindrucksvoll. Sie berichten von den Kommunebestrebungen im besetzten Algerien. Die arabische Bevölkerung hatte dort nicht die gleichen Rechte wie die Kolonisten aus Frankreich, dies führte immer wieder zu Revolten. Die Regierung in Paris versuchte dies durch eine Militarisierung der Kolonie zu unterbinden, was die Rechte der Franzosen in der Kolonie einschränkte. Mit dem Sturz des französischen Kaisers 1870 witterte das französische Bürgertum in Algerien Morgenluft. Gleichzeitig war Algerien voller Verbannter, die dort aus politischen Gründen hingeschafft wurden. Diese explosive soziale Mischung sorgte dafür, dass es zu Aufständen kam, die eine Kommune forderten. Selbst aus antikolonialer Perspektive stellte Paris sich als Schlusslicht der Aufstände dar.

Wimmer und Hartmann wollen mit ihrem Buch keine wissenschaftliche Arbeit abliefern, wie sie selber schreiben. Ihnen liegt vielmehr an einer neuen Perspektive auf die Pariser Kommune. Dieses besondere historische Ereignis soll demnach aus kleineren Aufständen erwachsen sein, als kumulierte kämpferische Erfahrung. Jedoch lesen sich die Berichte aus Marseille oder Lyon eher wie Kriegsberichte aus dem 19. Jahrhundert denn als eine spannende Geschichte, in der die einfachen Leute ihr Leben selber organisieren.

Schwer ist zu unterscheiden, was der Unterschied zwischen Kommune und Aufstand ist. Wenig erfahren wir über die Organisierung des Alltags in den kleinen Kommunen von der Mittelmeerküste bis nach Paris. Das liegt auch an der schlechten Quellenlage: Die Provinzaufstände standen immer im Schatten von Paris, denn als das Interesse an diesen wieder aufflammte, waren alle Zeitzeugen nicht mehr am Leben. Dadurch kann das Buch seinem eigenen Anspruch nicht gerecht werden, Alltagserfahrungen aus den proletarischen Aufständen des 19. Jahrhunderts als Quelle für heute erfahrbar zu machen. Denn so bleibt letztlich doch wieder nur ein weiterer Jahrestag im globalen Gedächtnis der Linken.

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