Eine Bremse, die nicht ausgelöst wird?

Bundesregierung mahnt zur Einhaltung des Notfallmechanismus / Astra-Zeneca-Impfungen gestoppt

100: Diese Zahl ist derzeit dazu auserkoren, über Wohl und Wehe der lang ersehnten und erst kürzlich begonnen schrittweisen Lockerungen der Corona-Beschränkungen zu befinden. Im Beschluss der letzten Bund-Länder-Runde heißt es zum Thema »Notbremse« bei vermehrtem Infektionsgeschehen: »Steigt die Sieben-Tage-Inzidenz pro 100 000 Einwohner an drei aufeinander folgenden Tagen in dem Land oder der Region auf über 100, treten ab dem zweiten darauf folgenden Werktag die Regeln, die bis zum 7. März gegolten haben, wieder in Kraft.« Laut Stufenplan bedeutete dies, dass die Lockerungen bei Schulen, Kitas, Friseuren und regionale Öffnungen (etwa Gartencenter) Bestand hätten, weitergehende Lockerungen müssten wieder zurückgenommen werden.

Doch was ist diese Notbremse wert? Diese Frage stellt sich, da es im Augenblick nicht danach aussieht, dass die Bereitschaft, sie auch zu ziehen, flächendeckend ausgeprägt wäre. So liegt die Inzidenz etwa in der rheinland-pfälzischen Stadt Pirmasens seit mehr als drei Tagen über 100, doch sollen dort Geschäfte grundsätzlich geöffnet bleiben und unter anderem lediglich strengere Regeln für private Kontakte und eine maximale Kundenzahl im Einzelhandel gelten. Auch zwei Landkreise in Brandenburg und mehrere Kommunen und Kreise in Nordrhein-Westfalen - darunter die Großstädte Köln und Duisburg - hatten angekündigt, trotz einer Sieben-Tage-Inzidenz über 100 die weitere Entwicklung abwarten und vorerst nicht die Notbremse ziehen zu wollen.

Sehr zum Missfallen der Bundesregierung. Deren Sprecher Steffen Seibert erklärte am Montag: »Wir müssen den Beschluss vom 3. März umsetzen, nicht nur in seinen erfreulichen Passagen, sondern eben auch in seinen schwierigen.« Wenn man Beschlüsse fasse, gehe »man immer davon aus, dass sie dann auch Realität werden. Die Umsetzung liegt bei den Ländern«, so Seibert. »Wir erkennen als Bundesregierung die Gefährlichkeit der jetzt herrschenden Situation an, und das sollte jeder. Steigende Inzidenzen, steigende Fallzahlen, insbesondere auch in der jüngeren Bevölkerung, kein Rückgang mehr der Belegung der Intensivbetten - das sind ungute Entwicklungen, auf die wir alle zusammen reagieren müssen.«

Eine Reaktion verlangt auch der wissenschaftliche Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, Christian Karagiannidis. Im RBB forderte er, sofort wieder in den Lockdown zu gehen, um eine starke dritte Welle der Pandemie noch zu verhindern. Zumindest müsse die von Bund und Ländern für den Fall steigender Infektionszahlen vereinbarte Notbremse mit einer Rücknahme von erfolgten Lockerungen der Schutzmaßnahmen nun konsequent umgesetzt werden. »Ansonsten würden wir jetzt noch einmal 5000, 6000 Patienten auf der Intensivstation sehen«, so Karagiannidis. »Man sieht sehr deutlich, dass wir sehr schnell jetzt wieder in steigende Intensivzahlen geraten werden, sofern wir dem Virus jetzt die Möglichkeit dazu geben.«

Raum, um um sich zu greifen, gibt dem Virus auch die zu langsame Impfkampagne - die am Montag auch noch einen zusätzlichen Rückschlag hinnehmen musste. Wie in zahlreichen anderen europäischen Ländern auch wurden hierzulande die Impfungen mit dem Impfstoff des britisch-schwedischen Herstellers Astra-Zeneca gestoppt. Die Bundesregierung folge damit einer aktuellen Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts, teilte das Bundesgesundheitsministerium am Montag mit. Nach neuen Meldungen von Thrombosen der Hirnvenen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung in Deutschland und Europa halte das Institut weitere Untersuchungen für notwendig. Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA werde entscheiden, »ob und wie sich die neuen Erkenntnisse auf die Zulassung des Impfstoffes auswirken«, so ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums.

Als erstes Land hatte vergangene Woche Dänemark die Impfungen mit dem Astra-Zeneca-Präparat ausgesetzt, seitdem folgten Norwegen, Island, die EU-Länder Bulgarien, Irland und am Sonntag die Niederlande. Österreich, Estland, Lettland, Litauen und Luxemburg setzten die Nutzung von einer bestimmten Charge des Vakzins aus, Italien und Rumänien stoppten die Nutzung einer anderen Charge.

Während sich die Schwierigkeiten mit dem Astra-Zeneca-Impfstoff zusehends häufen, wird eine mögliche Versorgung Europas mit dem russischen Vakzin Sputnik V vorangetrieben. Am Montag vermeldete Russland, es habe in Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien Vereinbarungen zur Sputnik-V-Produktion getroffen. Namen der Unternehmen wurden nicht genannt. Damit wolle man den Beginn von Lieferungen des Impfstoffs an europäische Länder sicherstellen, wenn eine Zulassung in Europa vorliege. Bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA läuft derzeit die Prüfung der Zulassung. Mit Agenturen

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