Militärintervention auf der Grundlage von Lügen

Professor Youssef Sawani bewertet den Militäreinsatz in Libyen durch Nato-Streitkräfte vor dem Hintergrund der heute vorliegenden Fakten

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 5 Min.

Was sind Ihre Erinnerungen an die Militärintervention vor zehn Jahren?

Vor zehn Jahren, am 19. März, begann eine Militäroperation auf der Grundlage der UN-Sicherheitsratsresolution 1973, die den Weg für diese Art von Intervention ebnete. Die Rechtfertigung für diese Intervention war der Schutz der Zivilbevölkerung, gemäß dem Prinzip der Schutzverantwortung. Das eigentliche Ziel war eher ein Regimewechsel. Es wird eine Aufgabe für Historiker sein, die tatsächlichen Auswirkungen der Intervention auf Libyen als Land und Gesellschaft zu bestimmen. Und es ist auch eine Aufgabe für Juristen und Menschenrechtsanwälte, zu prüfen, ob diese Intervention wirklich zum Schutz der Zivilbevölkerung geführt hat oder ob sie den Libyern die Tore zur Hölle geöffnet und zu katastrophalen Folgen geführt hat, mit einer hohen Zahl von Todesopfern direkt nach 2011, die weit höher war als die, die in den Monaten der Intervention erwartet wurden.

Youssef Sawani

Professor für Politik und Internationale Beziehungen, Universität Tripolis, Libyen. Doktortitel in Internationale Beziehungen von der University of Kent in Canterbury, UK. Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen, darunter: Islamist and Non-Islamist Currents and the Struggle for Post-Gaddafi Libya, Contemporary Arab Affairs, Vol. 11 No. 1-2, March-June 2018; (pp. 87-106), Public Administration In Libya: Continuity and Change, Special Issue of IJPA, November 2017, ''Security sector reform, disarmament, demobilization and reintegration of militias: the challenges for state building in Libya'', Contemporary Arab Affairs, Vol.10, No.2, 171-186, 2017. Mit ihm sprach Cyrus Salimi-Asl.

Die Intervention wirft auch die Frage auf, wie Werte wie Demokratie und Menschenrechte von verschiedenen Weltmächten ausgenutzt werden können, um politischen Interessen zu dienen. Es gibt also viele Blickwinkel, durch die man das Ganze betrachten kann, aber es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass es viele Opfer gab, Zivilisten und ein Großteil der libyschen Infrastruktur wurde unnötigerweise bombardiert und zerstört. Es gibt Versuche, wenn nicht sogar echte Fälle, die vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht werden, um die Nato und andere mögliche Täter der Intervention wegen der Gräueltaten oder dessen, was als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden kann, die in Libyen begangen wurden, zu verklagen.

Wie haben die Menschen in Libyen die militärische Intervention erlebt?

Die Intervention hat zu wirklich verheerenden Spaltungen unter den Libyern geführt und sie in Regimegegner und Regimetreue gespalten. Eine Art von Polarisierung, die sich als sehr zerstörerisch für das soziale Gefüge in Libyen, für die Stabilität und die Sicherheit erwies. Ich denke, die Erinnerungen an die letzten zehn Jahre sind noch frisch und präsent vor unseren Augen, und diese führen Menschen zu der Erkenntnis, dass die Intervention einen Aufstand militarisierte und einen blutigen Bürgerkrieg verursachte, der wirklich hätte vermieden werden können, zusammen mit seinen drastischen und tragischen Folgen. Das vorherrschende Narrativ jener Zeit ist, dass die Intervention ausschließlich durch die Handlungen des Gaddafi-Regimes und durch sein eigenes Verschulden verursacht wurde!

Das ist wirklich zum Lachen. Natürlich hat das Regime mit Brutalität auf die Demonstranten reagiert und es hat in vielen Teilen des Landes Gewalttaten gegen die Demonstranten begangen und hätte noch Schlimmeres tun können, aber die Intervention selbst, die Resolution des UN-Sicherheitsrates, die sie rechtfertigte oder ihr den Weg ebnete, basierte auf vielen Behauptungen, die sich später als glatte Lügen oder Fälschungen herausstellten. Wenn Sie sich die Berichte auf den Fernsehbildschirmen von Al-Jazeera oder CNN oder BBC vor Augen führen, dann sehen Sie nur eklatante Lügen. Offensichtlich wurden falsche Informationen fabriziert, um die Intervention zu rechtfertigen, wie auch weitere aufschlussreiche Dokumente von WikiLeaks sowie der Haufen von E-Mails, die auch offiziell von Präsident Trump veröffentlicht wurden, kurz bevor er das Weiße Haus verließ, zeigen. Sie zeigten, dass es sich um eine Art orchestrierten Plan handelte, um einen Regimewechsel herbeizuführen.

Es ging nicht darum, Zivilisten zu schützen oder die Demokratie zu fördern. Ich habe den Aufstand von ganzem Herzen unterstützt und betrachte mich selbst als Teil davon. Es war ein echter Aufstand gegen ein autoritäres Regime, das das Land 42 Jahre lang regiert hat, das sein Volk seiner Menschenrechte und einer wirklichen und echten demokratischen Beteiligung beraubt hat. Es beging auch entsetzliche Verbrechen und verletzte die Menschenrechte. Aber das ist etwas anderes, als wie wir die Intervention, die im März stattfand, betrachten und bewerten sollten.

Glauben Sie, dass die Militärintervention den Aufständischen eher genutzt oder geschadet hat?

Ich glaube auf jeden Fall, dass die Intervention, so wie sie durchgeführt wurde, nicht notwendig war. Es war mehr schädlich als nützlich. Es hätte andere Wege der Intervention geben können. Es gibt andere Wege der Intervention, die sich in anderen Fällen als effektiv erwiesen haben, aber in Libyen nicht eingesetzt wurden. Wenn wir auf die jüngere Geschichte Libyens selbst zurückblicken, als dem Gaddafi-Regime für einige Jahre Sanktionen auferlegt wurden, musste das Gaddafi-Regime seine alte Politik und seine Praktiken aufgeben und wurde später rehabilitiert und als Partner akzeptiert, mit dem viele Länder bereit und glücklich waren, Geschäfte zu machen. Kurz vor dem Aufstand lobten Länder wie die USA und Großbritannien das Regime und seine Reformen. Deshalb hätten andere Mittel eingesetzt werden können. Das hätte länger gedauert, aber die Ergebnisse wären viel besser gewesen als im anderen Fall, in dem eine umfassende, zerstörerische Militärintervention eingesetzt wurde. Zehn Jahre Blut und Krieg, Zerfall von allem und noch mehr ausländische Intervention, die alles in Libyen verdirbt.

Libyens Revolutionäre: gerettet und vergessen. Vor zehn Jahren griff eine internationale Koalition aufseiten der Aufständischen in den libyschen Bürgerkrieg ein. Frieden brachte sie nicht

Immer, wenn die Libyer kurz vor einer Einigung zur Beendigung ihres Bürgerkriegs zu stehen scheinen, kommt es zu einer ausländischen Intervention, die alles zunichte macht und uns wieder in den Bürgerkrieg zurückwirft. So werden libysche menschliche und materielle Ressourcen in Hülle und Fülle vergeudet. Der Aufstand hätte also geschützt werden können, mit verschiedenen Methoden und Mitteln unterstützt werden können, und das hätte entweder zum Sturz des Regimes oder zu einem politischen Kompromiss führen können, der auch zeitweise möglich gewesen wäre. Aber der Weg für einen politischen Kompromiss oder eine Versöhnung war völlig blockiert und verboten, von ausländischen Mächten verhindert.

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