Kein Verlass mehr auf die Raute

Kanzlerin Angela Merkel macht einen Rückzieher beim Corona-Beschluss und gibt sich selbstkritisch

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 5 Min.

In ihrer mehr als 15-jährigen Kanzlerschaft hat Angela Merkel noch nie eine vergleichbare Pressekonferenz wie am Mittwochmittag gegeben. Die CDU-Politikerin trat im Kanzleramt vor die Journalisten, um ihnen mitzuteilen, dass Teile der nächtlichen Beschlüsse, welche die Bund-Länder-Runde erst kürzlich zur Eindämmung des Coronavirus getroffen hatten, wieder rückgängig gemacht werden. »Heute Vormittag habe ich mich entschieden, die Verordnungen zur zusätzlichen Osterruhe nicht auf den Weg zu bringen, sondern zu stoppen«, erklärte Merkel. Diese waren offensichtlich nicht umsetzbar. Viele Fragen von der Lohnfortzahlung bis zur Lage in Geschäften und Betrieben hätten in der Kürze der Zeit nicht so gelöst werden können, wie es nötig gewesen wäre, sagte Merkel. Gründonnerstag und Karsamstag sollten wegen der steigenden Infektionen ursprünglich zusätzliche Ruhetage werden. Das ist nun vom Tisch.

Merkel räumte ein, dass sie weitere Verunsicherung in der Bevölkerung auslöse. »Das bedauere ich zutiefst. Am Ende trage ich für alles die Verantwortung. Wir befinden uns mitten in der dritten Welle. Es gab Fehler und Rückschläge. Aber wir werden das Virus besiegen«, sagte die Kanzlerin. Über einen möglichen Rücktritt äußerte sie sich nicht. Bei der Bundestagswahl im Herbst wird die CDU-Politikerin ohnehin nicht mehr antreten.

Einige Oppositionspolitiker haben trotzdem die Hoffnung, dass es mit der Großen Koalition aus Union und SPD schon früher zu Ende gehen könnte. »Die Bundeskanzlerin kann sich der geschlossenen Unterstützung ihrer Koalition nicht mehr sicher sein. Die Vertrauensfrage im Bundestag wäre ratsam, um die Handlungsfähigkeit der Regierung von Frau Merkel zu prüfen«, schrieb der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Lindner im Kurznachrichtendienst Twitter. Diese Forderung erhob auch sein Amtskollege von der Linksfraktion, Dietmar Bartsch.

Merkel lehnte diesen Schritt zunächst ab. Sie stellte sich am Nachmittag den Fragen der Abgeordneten im Bundestag. Von Oppositionspolitikern, darunter FDP-Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann, wurde die Forderung erhoben, dass künftig das Parlament die Entscheidungen zur Corona-Politik treffen müsse. »Über die Verbesserung der Arbeitsweise werden wir noch einmal miteinander reden«, sagte die Kanzlerin. Die Beratungen mit den Ministerpräsidenten seien aber weiterhin nötig, weil es letztlich Aufgabe der Länder sei, die Corona-Beschlüsse per Verordnung umzusetzen.

Neben Merkel gerieten auch einige Ministerpräsidenten unter Druck. Der CDU-Vorsitzende und nordrhein-westfälische Regierungschef Armin Laschet soll intern positiv betont haben, dass es überhaupt noch zu einem Beschluss von Bund und Ländern gekommen war. Im Düsseldorfer Landtag teilte Laschet am Mittwoch seine neue Erkenntnis mit, dass die Ministerpräsidentenkonferenz die Menschen »enttäuscht« habe. CDU-Landtagsfraktionschef Bodo Löttgen hatte den Osterruhe-Beschluss, an dem auch Laschet beteiligt war, offen in Frage gestellt. Er forderte im Namen seiner Fraktion, die Entscheidung vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Risiken zu überdenken.

Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow sagte, er finde weiter, dass es sich bei dem ursprünglichen Beschluss der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten um eine gute Idee gehandelt habe. »Es ging darum, einen überdynamischen Anstieg im Infektionsgeschehen mit fünf Ruhetagen zu kontern«, sagte der Linke-Politiker. Er rief die Bürger dazu auf, keine Urlaubsreisen zu unternehmen und nicht vielen Menschen zu begegnen.

Kritik gab es von vielen Seiten an der Regelung zum Urlaub in spanischen Regionen, unter anderem auf Mallorca. Die Bundesregierung hatte die Insel von der Liste der Risikogebiete gestrichen und die Reisewarnung wegen gesunkener Infektionszahlen aufgehoben. Damit entfiel die Quarantänepflicht für Rückkehrer. Die Folge waren ein Buchungsboom, aber auch Diskussionen, ob man so einen neuen Infektionsherd riskiert.

Der eigentliche Fehler habe seiner Meinung nach darin gelegen, dass die Deutschen plötzlich Urlaub auf Mallorca machen durften, nicht aber im eigenen Land, sagte Ramelow. Dafür sei man von den Hoteliers und von den Bürgern gleichermaßen »verdroschen« worden. Deswegen seien mehrere Bundesländer in die Ministerpräsidentenkonferenz mit der Forderung gegangen, Urlaub im eigenen Land zu ermöglichen. Die Bundesregierung habe erklärt, dass auch sie keine Urlaubsflüge gewollt habe und die Balearen nur »formal« von der Risikoliste genommen worden seien. »Aber gekümmert hat sich auch niemand«, sagte Ramelow verärgert. Dadurch sei ein »fataler Eindruck« entstanden.

Deutschland – kein Weltmeister
Die Corona-Bekämpfung zeigt, dass es ein Irrtum ist, die Bundesrepublik als fehlerfreien »Weltmeister« zu bezeichnen

Die Äußerungen von Ramelow bestätigen den Eindruck, dass das Bund-Länder-Treffen ziemlich chaotisch und wirr verlaufen ist. Einen Plan, wie man langfristig mit der ansteckenderen und tödlicheren Mutation des Coronavirus umgehen will und sie stoppen kann, gibt es offensichtlich nicht. Vielmehr werden immer wieder Forderungen von Interessengruppen und Organisationen erhoben, auf welche die Politik dann reagiert. Nach dem Treffen von Bund und Ländern äußerten Kirchenvertreter Kritik, weil die Politiker die Bitte ausgesprochen hatten, Gottesdienste an Ostern nur virtuell abzuhalten.

So etwas lassen sich die Oberhirten von weltlichen Herrschern natürlich nicht einfach so vorschreiben. Die katholische Kirche hatte am Dienstag angedeutet, der Bitte nicht nachkommen zu wollen und stattdessen die Kirchentüren an Ostern zu öffnen. Die evangelische Kirche in Deutschland ließ zunächst offen, wie sie mit der Situation umgehen will. Ihre Vertreter kündigten eine Erklärung nach Beratungen mit Politikern an.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal