Achtung, unbekanntes Terrain

Wer «Tim und Struppi» malt, bekommt Ärger mit den Erben: In Frankreich steht Xavier Marabout vor Gericht

  • Matthias Penzel
  • Lesedauer: 7 Min.

Zeig mir einen Helden, und ich schreibe dir eine Tragödie«, notierte F. Scott Fitzgerald einmal. In Übersee ist er eine Art Übergott der klassischen Moderne - in unseren Breiten sind Fitzgeralds Abenteuer aus dem Jazz Age der 1920er Jahre nicht annähernd so verbreitet wie die Winkelzüge von Lucky Luke. Ist das nun peinlich? Darf man das? Den Cowboy aus Belgien in einem Atemzug nennen mit einem Giganten der Weltliteratur? Darf man den überhaupt zitieren, ohne beim Verlag oder bei den Erben eine Genehmigung einzuholen?

Geltendes Recht ist abhängig von Zeit und Ort, meistens schützt es die Mächtigen, gelegentlich auch die Freiheit des Einzelnen. Recht und Gerechtigkeit sind nicht dasselbe, belehrt einen jeder Anwalt, noch bevor er auf die Stoppuhr drückt, mit der er sein Einkommen berechnet. Und wie ist es mit der Kunst? In Frankreich stehen »Tim & Struppi« vor Gericht. Im Justizpalast von Rennes, seit dem 8. März 2021.

Das Problem: »Tim und Struppi« wurden vom falschen Künstler gemalt: vom bretonischen Künstler Xavier Marabout. Er malte sie sogar in falsche Bilder hinein, in die Szenen von Edward Hopper. Aber was heißt, bitteschön, »falsch« in der Kunst? Wer heute »Tim und Struppi« malt, ist immer der falsche Künstler. Das Werk ist abgeschlossen. Der letzte Tim-Comic (»Tim und die Picaros«) erschien 1976. Sein Schöpfer Hergé starb 1983.

Die Nachlassverwalter von Hergé haben gegen Marabout vor vier Jahren eine Strafanzeige eingereicht. Das hat alles ein bisschen gedauert, denn gemalt hat Marabout seine Bilder schon 2014. Klägerin ist die Firma Moulinsart. Sie verlangt unter anderem 12 000 Euro Schadenersatz; kaum der Rede wert angesichts der 3 175 400 Euro für eine aus der Schublade gezogene Originalzeichnung von Hergé (»Der Blaue Lotos«), die Anfang des Jahres versteigert wurde.

Die Firma Moulinsart ist benannt nach Schloss Mühlenhof aus den Tim-Comics. In dem Barockbau wohnen Kapitän Haddock und Tim. Haddock zog auf der letzten Seite von »Der Schatz Rackhams des Roten« (1944) ein. Dereinst residierte dort auch einer seiner Vorfahren: Ritter Frantz von Hadoque. Erworben hat Mühlenhof Professor Bienlein, wohlhabend dank Lizenz-Einnahmen. So geht das. Stocktaub, jahrelang kein neuer Anzug und doch gut betucht.

Den Erben von Hergé, mittlerweile vertreten vom zweiten Ehemann der Witwe Hergés, geht es ebenfalls um Lizenzierungen. Für sie hütet die Firma Moulinsart den Schatz von Hergé und verfolgt unlautere Wettbewerber. 2019 setzten sie durch, dass ein Poster des belgischen Comic-Zentrums vom Markt genommen wird. Benannt ist das Centre Belge de la Bande Dessinée in Brüssel nach der »klaren Linie« (bande dessinée), im Comicsprech der gestalterische Stil ohne Schraffuren. Den hat Hergé sich zwar nicht patentieren lassen, aber populär gemacht. Bevor er dafür bekannt wurde, hatte er sich in anderen Ansätzen versucht: auf Papier mit Bleistift und Aquarell, auch mal Jugendstil oder dominierend schwarz-expressiv. Er malte und zeichnete Indigene, Autorennen, 20er-Jahre-Jazz-Orchester. Oder duellierende Cowboys, schlanke Damen und deren Couture. Das kann man alles in dem 1024-Seiten-Katalog des Centre Pompidou von 2006 betrachten, verlegt von Éditions Moulinsart, mit 800 Illustrationen.

Hergé hieß bürgerlich Georges Remi, geboren 1907 bei Brüssel. Sein Künstlername sind seine Initialen rückwärts buchstabiert und laut ausgesprochen. Für sein Werk übernahm er einiges aus nachweislich mehreren Tausend literarischen, filmischen, fotografischen Quellen. Er entwickelte ein Storytelling mit Cliffhängern, orientiert am Kino und da ganz besonders an Hitchcocks Suspense. Und er benutzte für seine Bilder reale Gebäude, die er abzeichnete. Schloss Mühlenhof ist beispielsweise Schloss Cheverny an der Loire minus die äußeren Flügel. Kunsttheoretiker sprechen von Appropriation Art, wenn ein Künstler einen anderen bewusst kopiert oder imitiert, sich also aneignet.

Unterdessen in der Bretagne. Der Angeklagte Marabout wusste, dass mit den Hergé-Erben nicht zu spaßen ist. Vielleicht nennt er deshalb seine Tim-Hopper-Bilder »Parodien«? Denn der Clou seiner Aneignungskunst, fast sein Markenzeichen, ist das Kombinieren zweier ungleicher Klassiker, auch Mash-ups genannt. Bevor er sich an Hergé wagte, mischte er Gustav Klimt und Batman, Picasso und den namenslosen Wolf von Tex Avery. Marabout macht das nicht mit der Stilsicherheit eines Roy Lichtenberg, der 1993 Tim mit Zeitung im Salon von Hergé inszenierte, mit dem Gemälde von Matisses tanzenden Nackten im Hintergrund (»Tintin Reading« kostet als Poster beim größten Onlinehändler 871,05 Euro, aktueller Verkaufsrang 5 816 998 in der Kategorie »Küche, Haushalt & Wohnen«).

Marabout nahm zwei Dutzend Gemälde von Edward Hopper als Grundlage und platzierte den ewig jungen Reporter Tim in Situationen, wie sie fast jeder versteht, wie sie jedoch der kleine Held auf den gut 1500 Seiten bei Hergé nie erlebt. Es geht um Tim und die Frauen. Unbekanntes Terrain! Frauen sind in den Tim-Bänden so gut wie nicht existent. Immerzu werden männliche Bösewichte bekämpft und bloßgestellt, als Schmuggler und Waffenhändler, Öl-Scheichs und Revolutionäre. Bei Marabout begegnet Tim dagegen Frauen, die gekleidet und geschminkt sind wie Pin-up-Girls. Das stellt für die Erben eine inhaltliche Veränderung dar, die sie nicht akzeptieren wollen.

Auf einem Bild, das das Gemälde »Chop Suey« von Edward Hopper (1929) adaptiert, räkelt sich eine junge Frau mit oberknappem Top, während am Tisch dahinter die Detektive Schulze und Schultze ihre Slapstick-Ermittlungen durchführen. Fast vorhersehbar, dass Marabout auch »Nighthawks« variiert, eins der berühmtesten Gemälde von Hopper, gemalt 1941. Es ist das mit den verlorenen rumsitzenden Gestalten in einem Diner mit großer Glasfront, das schon oft von anderen Künstlern bearbeitet wurde. Sehr bekannt ist die Variation von Gottfried Helnwein von 1984, auf der James Dean gegenüber von Marilyn Monroe und Humphrey Bogart sitzt, mit Elvis als Barkeeper. Auch die Simpsons waren schon in diesem Setting zu sehen oder - obskurer - William S. Burroughs mit Schießeisen. Und auch das Star-Wars-Personal. Geht das denn? Gut?

Man darf es nach US-Recht. Als lizenzfrei, demnach freigegeben zum ungefragten Publizieren, gelten Kunstwerke, deren Künstler 28 Jahre nach der ersten Veröffentlichung innerhalb des einjährigen Verlängerungsfensters keinen Antrag auf die Erneuerung des Urheberrechts gestellt haben. Falls Künstler noch keine 70 Jahre tot sind, könnten dieselben Werke in manchen Ländern aber als urheberrechtlich geschützt gelten.

Demnach ist es auch legal, sich beim Schriftsteller F. Scott Fitzgerald zu bedienen. Von ihm notierte Ideen nutzten Autor*innen für eigene Storys, 2006 publiziert in der Literaturzeitschrift »McSweeney’s« von Dave Eggers . Wie bei Hopper hat das den Mythos und die Legende von Fitzgerald eher gefördert als gestört.

Taugt denn der Mythos von Tim überhaupt als Stoff für eine Tragödie im Sinne von Fitzgerald? Erfunden wurde er in der Zeit, als Hopper, Fitzgerald, auch Raymond Chandler im Halbschatten des US-amerikanischen Traums stocherten. Als Erstes aber entsandte Hergé seinen Helden ins »Land der Sowjets«, nachdem er sich 1929 als 21-jähriger Nobody für antikommunistische Propaganda instrumentalisieren ließ, ein Jahr später auch für absurd dämlichen Kolonialismus inklusive Großwildjagd nach Afrika (»Tim im Kongo«). Doch 1931 schickte er Tim in die USA und ließ den Reporter über frühen Turbokapitalismus und entrechtete Ureinwohner staunen und auf ebenso heroische wie auch kindliche Weise organisierte Kriminalität und korrupte Cops verfolgen (»Tim in Amerika«). Ab da wurden die Abenteuer sorgfältiger geplottet, durch zunehmende Ambivalenzen wurden sie auch spannender. Den Sowjet-Band kann man sich sparen, Moulinsart ließ ihn 90 Jahre nach der Veröffentlichung kolorieren - was der Autor nie wollte.

Hergé wurde nach der Befreiung des von den Deutschen besetzten Belgien 1944 mehrmals festgenommen, weil er die Tim-Abenteuer in der von den Deutschen kontrollierten »Le Soir« veröffentlicht hatte - er sollte sogar hingerichtet werden. Doch käme Tim auf die Anklagebank, so der Richter, dann müsste sich da auch Struppi verantworten. Geht gar nicht. Unglaublich? Doch, so war es.

Vorwürfe kamen auch später. Bei der farbigen Neuversion von »Tim in Amerika« sollte ein bettelnder Indianer nicht gar so grausam leidend dargestellt werden. In Schweden ließ man Tierquälerei im Kongo zensieren: Das Sprengen eines Nashorns entfiel, doch am Rassismus störte sich niemand - so lief Cancel Culture 1975. Der Titel »Tim in Tibet« (1960) missfällt der Volksrepublik China bis heute, doch der blieb.

Klare Linie. Das Retuschieren von Vorurteilen zeichnet sich bei Hergé früh ab. Hergés bitterster Kritiker wurde Hergé, der sich verschiedene Fehler in seinen Comics vorwarf. Politisch wurde aus dem Royalisten ein linker Sozialkritiker, der sich für die Unterdrückten einsetzte. Voller Ehrfurcht gegenüber ihm fremden Zivilisationen, der Kunst Ägyptens, dito China, auch dem Buddhismus. Voller Furcht vor menschlichem Makel wie Gier und Eitelkeit.

Das erste Dutzend Tim-Alben schuf er fast im Jahrestakt, das letzte 1976. In »Tim und die Picaros« gibt es wieder einen Militärputsch, wieder in Südamerika. Ein Karneval (ein Konterrevolutionär agiert im Donald-Duck-Kostüm) bringt den Machtwechsel, doch - wie eins der finalen Bilder zeigt: Die Slums bleiben, nur die umgebenden Soldaten tragen neue Uniformen. Zeig mir eine lebensnahe Geschichte, und wie kann sie je besser enden als tragisch? Das Urteil im Prozess gegen Xavier Marabout wird im Mai erwartet.

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