Staubwolken der Oberfläche

Der Dramaturg Bernd Stegemann im Gespräch über die Krise der Öffentlichkeit, die Spiele der Mächtigen und die Dialektik von Identität und sozialistischer Politik

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 10 Min.

Gefühlt jede Woche gibt es zurzeit einen Aufruf, der auf die Bedrohung der Meinungsfreiheit aufmerksam machen will. Erleben wir eine Krise der Öffentlichkeit oder der Meinung?

Juristisch ist die Meinungs- und Kunstfreiheit ein hohes und geschütztes Gut. Im Alltag gibt es hingegen eine Vielzahl von Einschränkungen, die meist durch Gewohnheiten oder informelle Regeln bestimmt werden. Am eingeschränktesten ist der private Raum. Zu Hause kann jeder selbst entscheiden, was man sich anhören möchte und was nicht. Durch die sozialen Netzwerke ist eine Art öffentlicher Zwitter entstanden. Einerseits fühlt man sich wie zu Hause in der eigenen Twitter- oder Facebook-Blase, andererseits findet das öffentlich sichtbar für ein anonymes Publikum statt. Die Übersichtlichkeit des privaten Raumes kollidiert zwangsläufig mit dem Chaos der Öffentlichkeit. Darum versuchen Menschen immer öfter, ihre Vorlieben oder Abneigungen als allgemeingültigen Maßstab in der Öffentlichkeit durchzusetzen. So entstehen die Kulturkämpfe, in denen darüber gestritten wird, wessen Aussage überhaupt öffentlich werden darf und wessen nicht.

Ihr neues Buch trägt den Titel »Die Öffentlichkeit und ihre Feinde«. Geht es um die »sozialen Medien«, denen Joseph Vogl kürzlich einen »strukturellen Populismus« attestiert hat?

Die sozialen Medien sind ein Brandbeschleuniger, indem sie viele unterschiedliche Echokammern bilden, in denen die Konflikte schnell eskalieren. Und was in den sozialen Medien eine große Empörungswelle hervorruft, wird dann in den klassischen Medien - Zeitungen, Fernsehen, Rundfunk - wiederum aufgegriffen und umgekehrt. Das befeuert sich gegenseitig und bildet füreinander jeweils eine Öffentlichkeit.

Hängen Kommerzialisierung und Privatisierung sowie Entpolitisierung zusammen, also Neoliberalismus wie aus dem Lehrbuch?

Ich versuche zu zeigen, welche Verbindungen es gibt zwischen der neoliberalen Ideologie und der Zersplitterung und der Atomisierung der Öffentlichkeit, die eine technische Basis wie das Internet braucht. Die sozialen Netzwerke befördern den Thrill, damit die User möglichst viel Lebenszeit dort verbringen. Das war immer schon der Antrieb von Öffentlichkeit, auch bei den Zeitungen im 18. Jahrhundert. Es muss immer etwas Tolles passieren, sonst fehlt es bald an zahlungskräftiger Aufmerksamkeit. Das wusste man schon mit dem Aufkommen der Tageszeitungen, als ein anonymer schlauer Mensch fragte: Aber was machen wir, wenn morgen gar nichts Besonderes passiert? Heute übernehmen diese Arbeit in der Serienproduktion von Aufregung die Milliarden User weltweit.

Zeigt sich in einem Moment der Krise das Wesen von Öffentlichkeit, in der es nie nur um den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« geht, sondern auch um Krawall, Spektakel und nebenher handfeste Interessen?

Öffentlichkeit braucht das Spektakel, um Aufmerksamkeit zu bekommen. In der Hinsicht ist sie mit dem Theater verwandt. Und Aufmerksamkeit, die über das Private hinausreicht, ist die notwendige Voraussetzung, um dann alles andere verhandelbar zu machen, was eine komplexe Gesellschaft so umtreibt. Die Doppelgesichtigkeit von Aufregung und Konzentration ist das Wesen von Öffentlichkeit. Die Frage lautet dann aber, wie klug oder unklug damit umgegangen wird. Ich versuche zu beschreiben, dass die Balance zurzeit auf die Seite des Spektakels, der Zuspitzung, der Freund-Feind-Unterteilung und des Populismus zu kippen droht. Seit einiger Zeit ist die Öffentlichkeit in einer Phase, in der der Krawall einen selbstverstärkenden Effekt hat. Sie verliert diejenigen, die den Dauerkrawall nicht aushalten können oder wollen. Übrig bleiben dann die, die das als Selbstzweck oder Geschäft betreiben, und damit nur die große Maschine der Aufregung füttern. Das meine ich mit Krise der Öffentlichkeit.

So eine Krise gibt es historisch nicht das erste Mal. Schon bei Balzac, beispielsweise in den »Verlorenen Illusionen«, kann man nachlesen, wie brutal der Kampf der Zeitungen und Verlage im Paris des Frühkapitalismus im 19. Jahrhundert geführt wurde. Auch Umberto Ecos »Der Friedhof in Prag« ist ein Roman über die Presse des 19. Jahrhunderts, in der Verschwörungen erfunden wurden, um zahlendes Publikum zu gewinnen. Die »Protokolle der Weisen von Zion«, die den mörderischen Antisemitismus des 20. Jahrhunderts vorbereitet haben, waren eine Zeitungsente, um die Auflage zu steigern - mit unfassbaren Folgen. Man sollte nicht naiv sein, was die Selbstradikalisierung öffentlicher Diskurse betrifft. Die Fake News schaffen eine eigenständige Realität, die man im Moment der Entstehung noch für durchschaubar und beherrschbar halten mag, die es dann aber später nicht mehr sind.

Öffentlichkeit verhandelt immer auch ihre eigenen Maßstäbe mit, derzeit über die Kritik von Sprecherpositionen. Das steht auch in einer linken Tradition. Sagt der Kapitalist »Freiheit«, meint er, möglichst billig Arbeitskräfte kaufen zu können. Für die Arbeiter dürfte Freiheit mit dem exakten Gegenteil zusammenhängen.

In der feudalen Ständegesellschaft war die Sache klar: Wenn der Adlige oder der Pfarrer spricht, dann hat das eine andere Relevanz, als wenn der Bauer oder der Laie spricht. Die bürgerliche Öffentlichkeit hat das verändert. Mit der Aufklärung und ihren Forderungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sollten die Individuen grundsätzlich gleichwertig sein, gleichzeitig aber auch verschiedene soziale Rollen in der Gesellschaft einnehmen. Weil mit Freiheit aber mal mehr das Kapital und mal mehr die Menschen gemeint sind, entstehen große politische und weltanschauliche Konflikte. Was zurzeit im Namen der Identitätspolitik passiert, ist hingegen eine Neuauflage der alten Hierarchisierung von Sprecherpositionen. Wenn Identität A spricht, hat sie recht, wenn hingegen B spricht, hat er unrecht, allein, weil er die Identität B hat. Das halte ich für einen gefährlichen Rückschritt hinter die Errungenschaften der Aufklärung und dem Ideal der Gleichheit.

Ich verwehre mich deswegen dagegen, dass die proletarische Stärkung des Klassengedankens, das Klasse-für-sich-Werden inzwischen auch als Identitätspolitik bezeichnet wird. Das war es eben gerade nicht! Die Arbeit der sozialistischen Politik bestand darin, einer Klasse ein Selbstbewusstsein und damit die Befreiung zu ermöglichen. Es sollte nicht das Gefängnis einer Identität gebaut werden. Die Klasse war nicht dadurch bedingt, dass man irgendwie aussah oder irgendwoher kam oder irgendein Geschlecht hatte, sondern dadurch, dass man an einer konkreten Stelle in der Machthierarchie des Kapitals stand. Das Gemeinsame der proletarischen Klasse war der Alltag in der Ausbeutung und der entfremdeten Arbeit, und dieser Alltag sollte nicht verewigt, sondern überwunden werden. Die identitäre Festschreibung wäre also das Gegenteil gewesen – und folgerichtig hat sie das Bürgertum betrieben. Das wollte das Proletariat auf eine Identität festlegen – moralisch verwerflich, faul, ungebildet und promiskuitiv zu sein –, um damit dessen untergeordnete Stellung in der Hierarchie als naturgegeben erscheinen zu lassen. Die Wohlmeinenden sagten schon damals, geht mal schön in euren Arbeitergesangsverein und bestärkt euch im Proletariersein, aber bitte nicht mehr. Der bürgerliche Blick auf die Selbstbewusstwerdung des Proletariats war ein identitätspolitischer Blick. Aber das war genau nicht die Perspektive der Klasse, die sich daraus befreien wollte.

Wäre Befreiung also ein dialektischer Prozess, in dem man das setzt, was man zugleich zu überwinden versucht? Und die Identitätspolitik bliebe dann beim ersten Schritt stehen?

Nehmen wir Gayatri Spivak mit ihrem berühmten Text »Can the Subaltern Speak?«. Sie führt Identitätspolitik ein und überwindet sie zugleich. Sie sagt, man braucht einen strategischen Essentialismus. Ihr Beispiel ist eine indische Witwe, die sich wehrt, mit ihrem verstorbenen Ehemann verbrannt zu werden, wie es ihre eigene Kultur verlangt. Weigert sie sich, folgt sie aber der imperialen Kultur der Engländer, die Indien besetzt halten. Sie steckt in einem Dilemma unterschiedlicher hegemonialer Diskurse, weswegen Spivak feststellt, dass sie nicht sprechen kann. Um aus der Sprachlosigkeit herauszukommen, die der doppelten Besetzung in der patriarchalen und kolonisierten Gesellschaft entspringt, muss sie ihre Identität stärken.

Das ist der politisch richtige Gedanke der Selbstermächtigung. Der gilt auch fürs Proletariat, das auch mehrfachen Unterdrückungen ausgesetzt ist. Aber das ist eben ein Schritt und nicht das Ziel. Verwechselt man das, entsteht das Problem, dass nun jede Art von identitärer Besonderheit zu einer letztgültigen Wahrheit der eigenen Existenz erklärt wird. Und je normaler und robuster diese Neogemeinschaften werden, desto mehr wird vergessen, dass der strategische Essentialismus als Zwischenschritt gemeint war. Und das ist exakt der Gedanke des Klassenkampfes: Ich mache mich zum Proletarier, um nicht mehr Proletarier zu bleiben.

Liegt die identitätspolitische Verdinglichung des Zwischenschritts auch daran, dass der universale Emanzipationshorizont verloren gegangen ist? Dass wir es mit Rückzugsgefechten zu tun haben?

Rückzug klingt mir zu taktisch, es sind eher Resignationsgefechte. Wenn man gar keine Hoffnung mehr hat, dass man noch irgendwas zum Positiven für das Gesamte bewegen kann, dann zieht man sich auf den kleinstmöglichen Nenner zurück. Da kann man noch Erfolge feiern, nur sind sie halt nahezu irrelevant. Und man läuft Gefahr, nur noch die Rolle des nützlichen Idioten in einem größeren Spiel zu haben. Die Firma Knorr hat beispielsweise Nancy Fraser mit dem »progressiven Neoliberalismus« gut verstanden. Gegen das Unternehmen gab es Shitstorms und Proteste wegen des Namens einer Paprikasoße. Und diese Aufregung hat die Firma genutzt, um in deren Windschatten die Rechte der Arbeiter zu beschneiden. Nun heißt die Soße »Paprikasoße ungarischer Art«, aber die Arbeiter haben schlechtere Verträge.

In Ihrem Buch geht es nicht nur um Identitätspolitik, sondern auch um Biopolitik. Sie sprechen von Angst-, Panik- oder auch Katastrophenkommunikation.

Leider ist kaum etwas besser verkäuflich als die drohende Apokalypse. Da gibt es ein Lustgruseln, mit der fatalen Folge, dass es sich abnutzt. Je öfter ich sage, morgen geht die Welt unter, und dann tut sie es aber wieder nicht, desto größer müssen die Angstbeträge werden, weil sie immer weniger auslösen. Je panischer kommuniziert wird, desto resignierter, müder und weniger veränderungsbereit werden die Menschen, das ist ein fatales Paradox.

Sie kommen vom Theater. Beobachten Sie die Öffentlichkeit unter dem Aspekt des Gespielten, des Inszenierten?

Ja – und ich frage mich, warum es vielen Zeitgenossen, insbesondere auch Journalisten, offenbar immer schwerer fällt, simple Strategien und Inszenierungen zu durchschauen. Merkel entschuldigt sich öffentlich für einen marginalen Fehler, die Osterruhe beginnt Freitag statt Donnerstag, wenn man es einfach zusammenfasst. Und dann wird so getan, als hätte sie übermenschliche Reue gezeigt. Aber über ihre wirklichen Fehler bei der Impfstoffbeschaffung, dem Arbeitnehmerschutz und den Tests hat sie weiterhin geschwiegen. Wie kann man bei einer Kanzlerin, die die Klaviatur der öffentlichen Inszenierung perfekt beherrscht, darauf hereinfallen? Wenn politische Journalisten schon die einfachsten Manöver nicht mehr durchschauen wollen oder können, wie sieht es dann mit größeren Zusammenhängen aus? Wenigstens die Spiele der Mächtigen in der Öffentlichkeit sollte man begreifen.

Die Spiele der Mächtigen, das kennt man vom Theater, wo man als Publikum geschult wird, das Verhältnis zwischen Sprache und Handlung genau zu beobachten.

Im Theater kann man gut lernen, wie Menschen sich selbst inszenieren. Theaterfiguren haben viele Möglichkeiten, um ein Bild von sich herzustellen. Man kann ihnen bei diesem Spiel zuschauen, und dann kann man anfangen, darüber nachzudenken. Theater ist eine gute Übung darin, sich nicht von den Staubwolken der Oberfläche, wie Marx das nannte, die Augen vernebeln zu lassen. Stattdessen lernt man, zu sehen, das ist eine Staubwolke, lasst uns mal schauen, was sich dahinter verbirgt.

Die Meisterleistung des Neoliberalismus ist die virtuose Erzeugung von Oberflächenbewegungen. Seine Staubwolken haben ihn gegen jede Kritik immunisiert – insbesondere auch durch die Techniken der Moral, die die Mächtigen zu jeder Zeit schon in ihrem Sinne genutzt haben. Wer Kritik übt, gilt als Nörgler und Neider – oder gar als reaktionär. Es gibt keine souveräne und öffentlichkeitswirksame, geschweige denn mehrheitsfähige Kritik am Status quo. Und das ist das eigentliche Problem der Linken. Auch für den linken Journalismus, da gibt es ein riesiges Defizit.

Kann Öffentlichkeit überhaupt gelingen?

Solange es noch immer eine Anschlusskommunikation gibt, geht es weiter. Es gibt keine reine Öffentlichkeit, in der niemand mehr stört. Das ist ein völlig anti-öffentlicher Gedanke von Öffentlichkeit, so wie ihn totalitäre Regimes erzwingen. Öffentlichkeit ist ein offenes System, in dem man selbst wach bleiben muss. Deswegen habe ich mich weniger um die großen Tech-Konzerne gekümmert, denn dann fühlt man sich schnell als kleines unschuldiges Opfer. Aber nein, die Feinde der Öffentlichkeit die sind wir schon alle selbst. Je nachdem, wie wir uns zur Offenheit positionieren und welche Rolle wir darin übernehmen. Man kann nicht einfach sagen, Herr Zuckerberg ist der Feind, das wäre ein zu einfacher Ausweg oder eine entlastende Halbwahrheit.

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