Gott sei Dank, dass es Kameras gibt

DER FEIND STEHT RECHTS: Ohne Handykameras würde man über die zahlreichen Vorfälle rassistischer Polizeigewalt gar nicht erst erfahren, meint Stephan Anpalagan

  • Stephan Anpalagan
  • Lesedauer: 4 Min.

»Man Dies After Medical Incident During Police Interaction«. Eigentlich hätte die ganze Angelegenheit damit erledigt sein können. Ein Mann stirbt aus medizinischen Gründen während eines Polizeieinsatzes. In dem Bericht der Polizei Minneapolis zum Tod von George Floyd heißt es, die Polizisten hätten während der Festnahme eines Verdächtigen einen medizinischen Notfall bemerkt und den Krankenwagen gerufen. Der Verdächtige wurde in ein Krankenhaus befördert, wo er kurze Zeit später starb.

Das ist natürlich bedauerlich, aber nun auch nicht weiter ungewöhnlich. »Leben ist immer lebensgefährlich« wusste schon Erich Kästner. Und was soll ein Polizist auch machen gegen einen medizinischen Vorfall? Vielleicht war es das schwache Herz? Oder die vielen Drogen? Der Mann, der in dem Polizeibericht nur als »der Verdächtige« auftaucht, war schwarz. Und das wiederum kann ja alles bedeuten. Man hört ja so vieles. Und beinahe so als ob der Pressesprecher der Polizeibehörde den Ärger vorhergesehen hätte, lässt er einen Satz in die Pressemeldung schreiben, der das übliche Narrativ des brutalen weißen Polizisten, der unschuldige schwarze Männer erschießt, zerstreuen soll: »At no time were weapons of any type used by anyone involved in this incident.«

Keine Waffe. Nirgendwo. Von Niemandem. Medizinischer Vorfall. Nur, um noch einmal sicherzugehen. Außerdem, so heißt es in dem Polizeibericht, wird der Vorfall behördenintern aufgeklärt, während der gesamten Zeit waren die »Body Cameras« aktiviert. Mehr Transparenz geht nun wirklich nicht.

Im Jahr 2020 wurden in den USA 1021 Menschen von der Polizei erschossen. George Floyd war keiner von ihnen. Wegen »keine Waffe« und »medizinischer Vorfall«.

An dieser Stelle hätte die Geschichte enden können. Vier Polizisten, die am Tatort nichts ungewöhnliches bemerken, eine Polizeibehörde, die im Nachhinein nichts ungewöhnliches feststellen kann, eine interne Ermittlung, die möglicherweise nichts ungewöhnliches zutage befördert hätte, Aufnahmen von Überwachungs- und Körperkameras, die aus rätselhaften Gründen gelöscht und überschrieben würden. Alles so wie immer, bitte gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen.

Vier Jahre vor dem Tod von George Floyd sitzt der schwarze Fernsehmoderator Larry Wilmore hinter seinem Schreibtisch, schaut zur Decke und sagt: »Thank god for fucking cell phones!« Ohne die in den Mobiltelefonen eingebauten Kameras würde man über die zahlreichen Vorfälle, in denen schwarze Menschen durch brutale Polizeigewalt ums Leben kommen, gar nicht erst erfahren, so Wilmore weiter. Über Jahre hinweg hätte die Schwarze Community in den USA zwar gewusst, dass es diese Vorfälle gebe, beweisen ließen sie sich allerdings nicht. Und so blieben nur die Erzählungen und Erklärungen der Polizeibehörden und der Staatsanwälte, die einen möglichen Rassismus innerhalb der Polizeiorganisationen weit von sich wiesen. Überhaupt würden unabhängige Gerichte die angeklagten Polizisten ja immer wieder freisprechen. Ob das nicht ein Zeichen für die untadelige Polizeiarbeit wäre?

Laut der Pressestelle der Polizeibehörde in Minneapolis starb George Floyd aufgrund eines »medinischen Notfalls während eines Polizeieinsatzes« ohne jede weitere Auffälligkeit. Hätten umstehende Passanten keine Videoaufnahmen erstellt, bliebe der Tod an George Floyd ungesühnt. Es gäbe keinen Aufschrei, keine Anklage, kein Urteil. Derek Chauvin, der neun Minuten auf Floyds Hals kniete, bis dieser erstickte, würde heute weiter seinen Dienst verrichten. Genauso wie seine drei Kollegen, die ihn nicht daran hinderten einen Menschen umzubringen.

Im Jahr 1991 wurde der Afroamerikaner Rodney King von fünf Polizisten des Los Angeles Police Department zu Boden getreten und mit Schlagstöckern verprügelt. Ein Polizist machte Gebrauch von seinem Taser und schoss King damit aus nächster Nähe in die Brust. Der Fall hätte keine Aufmerksamkeit erregt, hätte nicht der unbeteiligte George Holliday, der gegenüber vom Tatort wohnte, seine Videokamera geholt und die Szene von seinem Balkon aus gefilmt. Nachdem die Aufnahme einen örtlichen Fernsehsender erreichte und ausgestrahlt wurde, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Als dann auch noch die beteiligten Polizisten allesamt in einem Gerichtsverfahren freigesprochen wurden, bahnte sich die Generationen währende, unbändige Wut ihren Weg in die schlimmsten Ausschreitungen in der Geschichte Los Angeles.

30 Jahre nach der brutalen Polizeigewalt an Rodney King wird Derek Chauvin von einem Gericht verurteilt. Ein Ereignis von derartigem Seltenheitswert, dass Joe Biden, der Präsident der Vereinigten Staaten, persönlich bei den Hinterbliebenen von George Floyd anruft und ihnen seinen Beistand ausspricht.

Während des dreiwöchigen Gerichtsverfahrens gegen Derek Chauvin starben 64 Menschen durch die Hände der US-amerikanischen Polizei. Just während der Richter das Urteil gegen den ehemaligen Polizisten verkündet, erschießt die Polizei in Columbus die 16-jährige Ma'Khia Bryant. Eine junge Afroamerikanerin. Gefilmt hat niemand außer der Bodycam des Polizisten.

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