Türkische Frauen gegen das Patriarchat

Hürcan Aslı Aksoy forscht zu Geschlechterpolitik in der Türkei und sieht die Frauenrechte unter Druck einer repressiven Regierung

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 9 Min.

Die Türkei hat angekündigt, aus der Istanbul-Konvention des Europarats auszutreten. Dabei wurde die Konvention - Ironie der Geschichte - ja 2011 in Istanbul unterzeichnet. Kommt das aus heiterem Himmel?

Nein, die erste Debatte fand im August 2020 statt. Vielleicht erinnern Sie sich, dass die Regierungspartei AKP und der Staatspräsident sich entschieden hatten, die Hagia Sophia in Istanbul von einem Museum in eine Moschee umzuwandeln. Und direkt im Anschluss, nach zwei, drei Wochen, haben seine Anhängerschaft und einige muslimische Bruderschaften in der Türkei ihre Forderungen an den Präsidenten herangetragen, dass die Türkei sich aus der Istanbul-Konvention zurückziehen soll. Das hat natürlich eine öffentliche Debatte ausgelöst. Sofort waren Frauenorganisationen auf den Straßen und haben dagegen demonstriert.

War diese Forderung unter Erdoğans Anhängern unumstritten?

Das Interessante damals war, dass Frauen aus der AKP oder Frauenorganisationen, die der Partei nahestehen, sich auch für die Istanbul-Konvention ausgesprochen haben. Erdoğans jüngere Tochter sitzt in der Leitungsebene des Vereins Frauen und Demokratie (Kadem), und der hat sich für die Istanbul-Konvention ausgesprochen.
Hürcan Aslı Aksoy

Hürcan Aslı Aksoy ist stellvertretende Leiterin des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Sie promovierte in Politikwissenschaft an der Universität Tübingen. Bevor sie zum CATS kam, war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens an der Universität Erlangen-Nürnberg. Ihre Forschungsthemen sind türkische Innenpolitik, die Türkei im Nahen Osten, Zivilgesellschaft und Geschlechterpolitik. Sie veröffentlichte über Demokratisierung und Autokratisierung und gab den Sammelband »Patriarchat im Wandel. Frauen und Politik in der Türkei« heraus.

Sein jüngerer Sohn sitzt in einer anderen, bildungsorientierten Nichtregierungsorganisation, die den Rückzug gefordert hat. Das war dem Staatspräsidenten zu heikel, auch innerhalb der Partei. Die Debatte wurde im August gestoppt. Damals hörten wir: Die Partei verschiebt erst mal die Debatte. Und auf einmal kam das staatliche Dekret. Das heißt, die Partei, der Präsident und seine Führungsriege, die hatten das auf der Agenda und haben nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet.

Und der war jetzt gekommen?

Ja, das ist das Gleiche wie bei der Umwandlung der Hagia Sophia: Die Allianz zwischen der AKP und der rechtsnationalistischen MHP verliert drastisch an Zustimmung bei der Wählerschaft. Vor unserem Interview habe ich mir die letzten Zahlen angeschaut: Die Zustimmung für die AKP liegt bei rund 31,3 Prozent; das ist die niedrigste Quote seit 2002, als die AKP an die Macht gekommen ist. Und die MHP liegt bei etwa 7,8 Prozent. Der Präsident sieht, dass seine politische Allianz an Unterstützung verliert.

Was bedeutet das?

Das bedeutet, dass hinter dieser Entscheidung zum Rückzug aus der Istanbul-Konvention drei Strategien stehen. Erstens: Die eigene konservative Wählerschaft ansteuern. Das ist nicht überraschend, denn die Betonung von islamischen Werten und traditionellen türkischen Familienwerten steht immer auf der Agenda; das sehen wir auch in der Frauen- und Sozialpolitik.

Zweitens: Im Januar gab es ein wichtiges Treffen zwischen der AKP und der konservativ-religiösen Saadet Partisi (SP), der Partei der Glückseligkeit. Das ist die andere konservative Partei, die in der Opposition ist. Bei diesem Treffen hat ein Senior-Mitglied der Partei, das sehr einflussreich in der islamistischen Bewegung Millî Görüş (Nationale Sicht) war, einen Rückzug aus der Istanbul-Konvention gefordert - als eine Voraussetzung für eine Allianz. Die Wählerschaft und die Weltanschauung der SP liegen auf derselben Linie wie bei den konservativen Teilen der AKP.

Und die dritte Strategie?

Drittens natürlich Repression, eine politische Strategie aller populistischen autoritären Führer. Es geht darum, die Forderungen oppositioneller Gruppen und der Zivilgesellschaft einfach zu ignorieren. Und die organisierten Frauen in der Türkei sind Erdoğan und seinem Regime immer ein Dorn im Auge. Diese Frauen sind diejenigen, die die AKP am meisten in gesellschaftspolitischen Themen herausgefordert haben: Weil sie auf den Straßen demonstrieren, weil sie in breit angelegten Plattformen organisiert sind, weil sie internationale Netzwerke haben. Das haben wir in den letzten zehn Jahren gesehen, seit die autoritäre und antifeministische Politik an Fahrt aufgenommen hat.

Woran machen Sie das fest?

Zum Beispiel an der Abtreibungsdebatte: Die Regierung hat versucht, den Zugang zu Abtreibung unmöglich zu machen. Dagegen gab es damals immensen Protest und eine Gegenbewegung, da war die Regierung machtlos. Was die Regierung insgeheim geschafft hat, ist, dass Frauen in den staatlichen Krankenhäusern der Türkei nicht mehr unbedingt Zugang zu einer Abtreibung haben. Das Recht auf Abtreibung ist de jure nicht verboten, aber de facto versucht das Regime Abtreibungen unmöglich zu machen. Frauen können in privaten Krankenhäusern abtreiben. Das bedeutet, Frauen aus ärmeren Gesellschaftsschichten haben praktisch keinen Zugang zur Abtreibung.

Der Versuch der Regierung, Abtreibung unmöglich zu machen, war auch eine klare Attacke gegen die demokratische feministische Bewegung. Außerdem wurden mehrere Frauenorganisationen, insbesondere kurdische Frauenorganisationen, nach dem Putschversuch 2016 geschlossen. Sobald man sich gegen die Regierungslinie ausspricht, spürt man die Repression.

Erdogan scheint keine Konfrontation zu scheuen ...

Die türkische Regierung fährt in den letzten Jahren eher auf dieser türkisch-nationalistischen Schiene - also Türken gegen Kurden -, eine sehr tiefe Bruchlinie in der türkischen Politik. Die Staatsanwaltschaft hat neulich ein Verbotsverfahren gegen die prokurdische Partei HDP eingeleitet. Viele kurdische Politiker und Politikerinnen sind im Gefängnis, oder ihnen wurde ihr Mandat entzogen.

Und mit dem Rückzug aus der Istanbul-Konvention sehen wir, dass die Regierung und Erdoğan jetzt noch die zweite Bruchlinie reaktivieren: die zwischen den Religiösen und den Säkularen. Aber ich denke, daraus kann Erdoğan nicht viel Kapital schlagen. Es ist eher eine kurzatmige Strategie, so wie bei der Hagia Sophia: Es war der Kindheitstraum der wichtigen Figuren aus der islamistischen Bewegung, dass die Hagia Sophia noch mal zur Moschee wird. Seit 40 Jahren war das auf deren Agenda. Und nun ist es realisiert. Ging damit die Zustimmung für die AKP nach oben oder ist damit eine Wiederbelebung der Partei verbunden? Nein!

Mit dem Rückzug aus der Istanbul-Konvention hat Erdoğan starken Gegenwind erhalten, daher bin ich mir nicht sicher, wie lange sich diese Polarisierung aufrechterhalten lässt. Per Dekret kann man nicht aus einer internationalen Konvention austreten. Alle Juristen sind sich da einig: Erst muss das Parlament das diskutieren.

Was bezweckt Erdoğan mit dieser Konfrontationspolitik?

Das ist im Grunde seine vierte Strategie: Erdoğan zeigt in seinem Präsidialsystem, dass er den Willen und die Macht des Parlaments nicht anerkennt. Allein seine exekutive Gewalt darf Macht ausüben. Und all diese Strategien dienen allein dem Machterhalt - um jeden Preis. Das ist das, was wir beobachten.

Alles, was derzeit passiert, hängt zusammen: Erdoğans Kontrolle über die Wirtschaft, seine Repression der Justiz, seine Missachtung des Parlaments, der Zivilgesellschaft und sogar eigener Parteileute, da wir genau wissen, dass eine Gruppe von AKP-Mitgliedern für die Istanbul-Konvention ist.

Die Türkei befindet sich offenbar auf einem gesellschaftlichen Restaurationskurs, und die Religion nimmt einen größeren Raum ein im öffentlichen Leben. Ist dies das Ergebnis der Politik Erdoğans in den vergangenen 20 Jahren?

Ich würde nicht der klassischen Argumentationslinie folgen, dass die türkische Gesellschaft islamisiert wurde. Was ich sagen kann, ist, dass der Islam mit der AKP eine starke Präsenz in der Gesellschaft hat. Die Türkei als säkularer Staat, in dem alle religiösen Symbole nicht nur in der Privatsphäre benutzt werden, sondern auch in der Öffentlichkeit.

Das kemalistische Modell ...

Ja, dieses kemalistische, laizistische Modell ist nicht mehr vorhanden. Die Partei hat es geschafft, dieses Modell zu brechen, zum Beispiel mit der Aufhebung des Kopftuchverbots und damit, dass Frauen mit Kopftüchern in allen staatlichen Institutionen arbeiten und zur Uni gehen können. Das heißt, der Islam wurde als Teil der laizistischen Gesellschaft sozusagen anerkannt.

Ist das aus Ihrer Sicht eher positiv oder eher negativ?

Das ist eine positive Entwicklung, weil Sie in einem muslimischen Land nicht die Religion (den Islam) ausblenden können. Die Kopftuchdebatte beispielsweise war eine unglückliche Debatte. Als ich angefangen habe, in Deutschland zu unterrichten, habe ich erlebt, wie das hier diskutiert wurde. Ich habe den Studierenden gesagt: Bitte versucht das auch aus der Geschlechterperspektive zu denken. Sie diskriminieren hier Frauen, weil sie islamistische Männer nicht diskriminieren können. Das ist also eine positive Entwicklung. Aber wenn wir die türkische Politik der vergangenen zehn Jahre untersuchen, insbesondere seit den Gezi-Protesten 2013, sehen wir einen Prozess der Autokratisierung, eine negative Entwicklung. Der Staat trifft mehr und mehr autoritäre politische Entscheidungen und benutzt dafür Symbole.

In welchen Bereichen lässt sich das beobachten?

Auch das gesellschaftliche Leben hat sich geändert, das sehen wir im türkischen Bildungssystem: Die Regierung eröffnet viel mehr Predigerschulen, und in den öffentlichen Schulen mit säkularem Curriculum gibt es jetzt zusätzlich zum Religionsunterricht auch Wahlfächer wie das Prophetenleben oder Ähnliches. Wir beobachten also tatsächlich mehr Religion im gesellschaftlichen Leben. Gleichzeitig sind aber auch die Frauenrechte gestärkt worden, und die Sichtbarkeit der LGBTQ+-Bewegung ist gestiegen. Das heißt, die Türkei hat eine moderne Gesellschaft - mit unterschiedlichen Facetten.

Wenn Sie jetzt mit Frauenorganisationen sprechen, sei es feministischen oder kemalistischen, progressiv-islamistischen oder kurdischen Frauenbewegungen, würden die sagen, dass die Frauen sich heute ihrer Rechte bewusster sind, diese auch einfordern und so das Patriarchat herausfordern. Die organisierten Frauen gehen gegen das gesellschaftliche Patriarchat vor, aber auch gegen das politische. Man muss das Gesamtbild also von unterschiedlichen Seiten sehen.

Die Frauenrechte in der Verfassung und in den Gesetzen, sind progressiv - dank der Frauenbewegungen, aber auch dank des EU-Anpassungsprozesses, der zur Verbesserung der Gesetze in der ersten Hälfte der 2000er Jahre führte. Viele Frauen wollten aber noch weitergehen, sie wollen über Gleichheit der Geschlechter auch im ökonomischen Bereich reden: mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt, gleiche Löhne etc. Jetzt beklagen sie sich aber, dass sie neue Themen nicht auf ihre Agenda nehmen können, sondern die erkämpften Rechte permanent verteidigen müssen.

Repression nach innen, Hegemoniebestrebungen nach außen - etwa in Syrien, Libyen oder Berg-Karabach. Gibt es da einen Zusammenhang?

Diese Hegemonie-Ansprüche in der Außenpolitik haben sich kurzzeitig ausgezahlt. In Libyen hat die Türkei den Lauf der Dinge geändert. In Berg-Karabach hat Aserbaidschan ja Teile des Territoriums zurückbekommen. Aber jetzt, wo die Türkei Geld braucht, weil sich die ökonomische Situation verschlechtert hat, musste die Regierung in ihrem Kurs einer hegemonialen Außenpolitik ein bisschen zurückrudern. Die ehrgeizigen Hegemonie-Ansprüche in der Außenpolitik haben ihre Grenzen erreicht, jetzt fährt die Regierung einen härteren Kurs in der Innenpolitik. Das hängt also zusammen. 2020 war bestimmt von hegemonialen Ansprüchen in der Außenpolitik, dieses Jahr ist die verstärkte Repression in der Innenpolitik prägend. Die Türkei versucht sich zu positionieren und auch auszuloten, welche Position die Biden-Regierung gegenüber der Türkei einnehmen wird.

Und wie lautet Ihr Fazit?

Noch mal: Es geht allein um den Machterhalt. Erdoğan jongliert gerade, aber die Bälle fallen manchmal auch runter. Deswegen ist es wichtig, dass Europa sich stärker gegen diese Politik positioniert. Der Rückzug aus der Istanbul-Konvention bedeutet, dass die Türkei Menschenrechte - Frauenrechte sind ja Menschenrechte - nicht respektiert. Dass die türkische Regierung Rechtsstaatlichkeit nicht respektiert. Das verstößt gegen die europäischen Werte. Und die europäischen Staaten und Institutionen haben eine Verantwortung, die eigene Politik an die Einhaltung dieser Prinzipien zu knüpfen. Aber leider sind die Beziehungen momentan eher auf diesem transaktionalen Modus mit Migrationsdeal oder Sicherheitskooperation. Es ist wichtig zu betonen: Wenn Europa eine regelbasierte Politik mit einer gemeinsamen Position führt, zeigt dies Wirkung in Ankara.

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