Das Welken der Kunstblume

Erst zogen sich CDU und CSU inhaltlich in die Beliebigkeit zurück. Nun verlieren sie zudem ihren moralischen Kompass

  • Peter Richter
  • Lesedauer: 8 Min.

Als 1945 das nationalsozialistische Regime zusammenbrach, stürzten Millionen Deutsche in ein geistiges Vakuum. Sie angesichts der damals gewachsenen Attraktivität linker Ideen in vielen europäischen Ländern für den Konservatismus zu erhalten, besann man sich des Christentums. Kirchliche Kreise hatten schon einige Jahre zuvor über die »Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit« nachgedacht und eine »politische Gemeinschaftsordnung« zu entwerfen versucht.

Das wurde nach dem »Zusammenbruch« von Politikern dankbar aufgegriffen. Der Begriff »christlich« sei in einer Zeit, »in der die Kirchen gefüllt wie selten zuvor waren, überall mit großer Selbstverständlichkeit im öffentlichen Diskurs zu vernehmen«, schrieb der Kirchenhistoriker Michael Klein und folgerte. »Es sollte nach den Erfahrungen mit dem verbrecherischen Regime nun bewusst ein Neuanfang aus ›christlichem‹ Geist gemacht werden.«

Der Autor
Peter Richter ist Journalist und arbeitete lange als Politikredakteur, u. a. für das »nd«. Er betreibt die Internetseite blogsgesang.de, die sich laut Eigenbeschreibung mit »Politik, Zeitgeschichte, Kultur und Welt-Anschauung« beschäftigt und auf welcher der hier veröffentlichte Text zuerst erschien.

Pathetisch und unverbindlich

Darüber gab es zwar zunächst Streit, auch weil einige Theologen mit einem »christlichen Sozialismus« liebäugelten, doch Konrad Adenauer gelang es, diese Kräfte zurückzudrängen und im Neheim-Hüstener Programm sein Konzept einer großen bürgerlichen Partei, der CDU, bei zugleich »pragmatischer Auffassung von Religion« durchzusetzen. Es ging darum, jene zu sammeln, die »nicht in den Programmen der KPD und SPD ihre politische Heimat finden« (Berliner Grundsätze, 26. Juni 1945). Man definierte sich bewusst als rechts, was man freilich in einem Wust pathetischer Unverbindlichkeiten zu verstecken suchte: »Die christliche Weltauffassung allein gewährleistet Recht, Ordnung und Maß, Würde und Freiheit der Person und damit eine wahre und echte Demokratie, die sich nicht auf die Form des Staates beschränken darf, sondern das Leben des Einzelnen wie das des Volkes und der Völker tragen und durchdringen soll.«

Ungeachtet solcher Künstlichkeit war dieser Ansatz durchaus erfolgreich, zumal ihn die Unionsparteien stets sehr flexibel zu handhaben wussten. So enthielt die frühe Programmatik der CDU viele progressive Elemente. Im Ahlener Programm von 1947 hieß es beispielsweise: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.« Und weiter: »Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.« Verheißungen, die freilich bald vergessen waren. Schon zwei Jahre später erfolgte die Revision hin zur kapitalistischen (Markt-)Wirtschaft, zwar mit dem Attribut »sozial« versehen, das aber bald nicht mehr als schmückendes Beiwerk war.

Deutsche Einheit als Rettungsanker

Damit einher ging die Restauration der gesellschaftlichen Verhältnisse, von der jungen Nachkriegsgeneration am Ende der Adenauer-Ära als »Muff von 1000 Jahren« gegeißelt; ihre Protestaktionen zu Ende der 60er Jahre bezogen sich nicht nur auf die »Talare«, die Universitäten, sondern artikulierten grundlegende gesellschaftliche Defizite hinsichtlich Vergangenheitsaufarbeitung und Demokratieentwicklung, gipfelnd in der Kanzlerschaft Kurt Georg Kiesingers, der aus Überzeugung dem NS-Regime in hohen staatlichen Funktionen Vorschub geleistet hatte und nun für die Notstandsgesetze und die Verjährung der Nazi-Verbrechen sorgte. Der einstige hohe Anspruch eines wirklichen Neuanfangs war unter einem rückwärtsgewandten, verstaubten Konservatismus erstickt worden; die Unionsparteien waren ihrer selbst gestellten Aufgabe nicht gerecht geworden.

Sie gerieten damit in ihre erste große Krise und verloren die Macht 1969 an die Sozialdemokratie; erst 1982 gelang ihnen mit Helmut Kohl die Rückkehr an die Regierungsspitze. Mit dem Slogan von der »geistig-moralischen Wende« gab er ein ähnlich folgenloses Versprechen ab wie vor ihm Adenauer mit seinen wolkigen Formulierungen über das »Wohlergehen des Volkes«. Gleichzeitig betrieb Kohl jedoch Realpolitik, indem er den wesentlich von Willy Brandt geprägten Kurs gegenüber dem Osten in seinen Grundzügen fortsetzte. Sein Erfolg schien dennoch von nur relativ kurzer Dauer.

Schon Ende der 80er Jahre spitzten sich die Widersprüche innerhalb der Unionsparteien zu; vor allem wegen der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die wesentlich von den neoliberalen Vorstellungen der FDP geprägt wurde. Sie hatte 1982 unter Führung von Otto »Markt«-Graf Lambsdorff die Koalition mit der SPD aufgekündigt und versuchte ihre Ziele mit CDU und CSU durchzusetzen. Tatsächlich machte sich die Regierung Kohl an die »Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft«, was schon bald zu sozialen Einschnitten, aber auch zu Protesten innerhalb der Union führte. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit auf über zwei Millionen.

Bei der Bundestagswahl 1987 erhielten CDU und CSU mit einem Stimmverlust von 4,5 Prozent die Quittung, was die Auseinandersetzungen in den C-Parteien weiter verschärfte und 1989 sogar zu einem Putschversuch gegen Helmut Kohl führte. Nur der Zusammenbruch der DDR und die darauf folgende Einheit Deutschlands retteten Kohl die Kanzlerschaft, und die Unionsparteien konnten damit ihre schon damalige Konzeptionslosigkeit und Kohls Hang zu »pragmatischem Kurzfristhandeln« (»Der Tagesspiegel«) überdecken. Erneut war die Union an einem zukunftsweisenden Erneuerungsprozess gescheitert; was sich nicht zuletzt auch negativ auf die Gestaltung des neuen Einheitsstaates auswirkte und 1998 zu erneutem Machtverlust führte.

Dass CDU und CSU bereits sieben Jahre später wieder ins Kanzleramt zurückkehren und dort bis heute verbleiben konnten, verdankten sie Gerhard Schröder und verdanken sie dessen Gleichgesinnten, die die SPD mit der Agendapolitik ihrer Wurzeln beraubten und sich zum jahrelangen Mehrheitsbeschaffer für die Union erniedrigten. Dieser ist das dennoch nicht gut bekommen, wie die aktuelle Entwicklung zeigt. Denn Angela Merkel führte die ambitionslose Politik ihrer christdemokratischen Vorgänger nicht nur fort, sondern trieb sie geradezu auf die Spitze.

Ein inhaltliches Vakuum

»Mal bin ich liberal, mal bin ich konservativ, mal bin ich christlich-sozial - und das macht die CDU aus«, so definierte sie einmal ihre Politik der Beliebigkeit, die sich vor allem daran orientierte, was beim Wähler ankam. Dies hatte zwar den Vorzug, dass sie zum Beispiel mit dem Atomausstieg, der Abschaffung der Wehrpflicht, der Zulassung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und vor allem der Aufnahme von Flüchtenden 2015 Entscheidungen traf, die einem demokratischen Rechtsstaat gut zu Gesicht standen. Gleichzeitig aber ging sie bei der Durchsetzung dessen oft populistische Kompromisse ein, die die gute Absicht konterkarierten. Sie hatte in der Regel keinen Plan, nicht weil sie dazu nicht fähig gewesen wäre, sondern weil sie gar keinen wollte, um nicht daran gebunden zu sein.

Damit geriet sie schon bald in Konflikt mit den konservativen Gralshütern der CDU und vor allem der CSU, die sich vor allem rechts von der Mitte verorteten - so weitgehend, dass es laut Franz Josef Strauß keine demokratisch legitimierte Partei rechts von der Union geben dürfe. Sie ziehen ihre Bundeskanzlerin der »Sozialdemokratisierung« der C-Parteien und machten vor allem sie für das Aufkommen der AfD verantwortlich; tatsächlich rekrutierte sich deren Führungspersonal zu einem beträchtlichen Teil aus frustrierten Mitgliedern vor allem der CDU.

Merkels Bestimmung der drei Wurzeln der Union, der liberalen, der sozialen und der konservativen, machte deutlich, dass sie selbst ihrer Partei keine eigene Programmatik zuschrieb, sondern sie sich aus den Inhalten anderer Parteien bedient, der FDP, der SPD und nun auch der AfD. Ausdrücklich stellte sie das Diktum Strauß’ in Frage, sofern es bedeute, »dass im Ergebnis Prinzipien relativiert oder gar aufgegeben werden müssten, damit Menschen sich nicht von der Union abwenden, Prinzipien …, die den Kern unserer Überzeugungen ausmachen«. Das ist nachvollziehbar, bedeutet aber in der Konsequenz die Überflüssigkeit der Unionsparteien; schließlich gab und gibt es längst Parteiengewächse, die aus ihren eigenen Wurzeln hervorgingen.

Auch eine Kunstblume hat ihren Charme; immerhin hat die Union die Bundesrepublik über 50 Jahre lang regiert. Doch nun zeigt sich, dass das inhaltliche Vakuum zum existenziellen Problem wird. Es befördert Tendenzen, das parlamentarische Mandat zum ökonomischen Geschäftsmodell zu machen, wie sich in der Maskenaffäre zeigte. Das ist für die Unionsparteien keine neue Erfahrung, sondern begleitete sie über ihre gesamte Geschichte hinweg. Bei Wikipedia findet man eine detaillierte »Liste von Korruptionsaffären um Politiker in der Bundesrepublik Deutschland«. Es sind insgesamt 37 an der Zahl, an 29 davon waren Politiker von CDU oder CSU beteiligt. In in dem Maße, wie Politik inhaltsleer wird, tritt das Motiv, politischen Einfluss zur persönlichen Bereicherung zu nutzen, immer stärker hervor. Auch das gehört zur - gewiss ungewollten - Bilanz der Kanzlerschaft Angela Merkels.

Denn der erbitterte Machtkampf zwischen den Vorsitzenden von CDU und CSU um die Kanzlerkandidatur hat ebenfalls mit diesem moralischen Verfall der Unionsparteien zu tun. Dass eine so große Zahl von CDU-Funktionsträgern ihrem gerade gewählten Vorsitzenden Armin Laschet die Gefolgschaft aufkündigte und zu Markus Söder überlief, hatte keinerlei inhaltlichen, sachlichen Gründe, sondern beruhte allein auf der Kalkulation, mit wem man sicherer weiter an den Pfründen der Macht teilhaben könnte. »Leider geht es jetzt nur um die harte Machtfrage: Mit wem haben wir die besten Chancen?« beschrieb das Präsidiumsmitglied Reiner Haseloff mit entlarvender Offenheit die Absichten der Überläufer.

Die Schwäche der Konkurrenten

Es interessiert also nicht, welche Politik der eine oder der andere machen will; entscheidend ist, dass die Union irgendwie an der Macht bleibt. Haseloff plädierte faktisch für gnadenlosen Populismus, denn: »Man kann mit erhobenem Haupt und wehender Fahne für eine gute und richtige Position sein, aber trotzdem in der Opposition landen.« Es ist das gleiche Konzept, das die US-amerikanischen Republikaner mit Donald Trump verfolgten und die britischen Konservativen mit Boris Johnson. Auf diese Weise kamen in Osteuropa der Ungar Viktor Orban, der Pole Jaroslaw Kaczyński und andere an die Macht. Die Union auf dem Weg in den Autoritarismus?

Das Vergilben der einstigen Gründungsidee bedeutet nicht zwangsläufig das baldige Ende der Unionsparteien. Sie haben schon etliche Krisen überstanden, gerade weil sie von Anfang an ohne eine wirkliche Vision agierten und deshalb bei neuen Herausforderungen vormalige Prinzipien schnell über Bord warfen. Dass solch ein Manöver auch jetzt wieder gelingen könnte, dabei hilft ihnen die Schwäche ihrer Konkurrenten.

Die SPD stellte einen Kanzlerkandidaten auf, der zu den Architekten ihres größten sozialen Sündenfalls, der Agenda 2010, gehörte und auch jetzt wenig Sympathien für eine konsequent linke Politik erkennen lässt. Seit sich die Realos bei den Grünen durchgesetzt haben, regieren diese bevorzugt mit einer gemäßigt-konservativen CDU und sogar der FDP als mit linken Partnern einer erheblichen Bandbreite. Und die Linke findet - fixiert auf ideologische Streitereien - nicht die Kraft, das Mögliche zu versuchen, statt das Unmögliche zu träumen.

Keine guten Aussichten auf jenen frischen Blumenschmuck, der die Kunstblume ersetzen könnte.

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